Brief vom 20. Februar 1750, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 20. Februar 1750

Hrn. prof. Sulzer.

Ich hätte doch gewünscht daß Noah weniger drukfehler hätte, nachdem sie mir zur last geleget werden. Ist es nicht möglich daß Weidmann sie auf ein eigenes Blatt druket. Zum wenigsten könnten sie in den critisch. Nachr. gedrukt werden. Ich fürchte sehr daß Gellert mich verrathen werde, er kennt meine hand. Es ist genug daß die unschuldige liebe denen Freunden die ich ihnen genannt habe durch verborgene Wege in die hand gespielt werde. Ich will doch gern sehen was sie für sich selbst daraus machen. Wenn sie einer Weidmann schikt non veto nec desidero. Wenden sie den produit der 2 Gesänge zu den Briefporti an, die ich Ihnen und Hn Schuldheiß verursache. Hier habe ich die unsch. L. noch keiner seele gezeigt. Ich habe Geduld bis Spöri sie bekömmt. Es dünkete mich oft die Einfälle kämen mir vom Himmel, ich wär bald ein Enthusiast geworden. Vielleicht habe ich dises dem gelübde zuzuschreiben. Noah ist schon aus dem Kasten gestiegen. Die haben recht die sagen es seyn prosaische Verse in dem Noah, ob es aber die seyn, da dise leute meinen weiß ich nicht. Ich habe oft geeilet, damit ich über Kleinigkeiten nicht die wichtigen dinge vergässe. Ich bin wol zufrieden daß das werk stark beurtheilt werde, ich hoffe aber daß es auch stark werde gelesen werden. Die leser bedenken nicht wie viel man erfinden muß 9000 Verse über ein so mageres sujet zu machen. Es ist schwerer die Schwierigkeiten zu entdeken, die ein poet überstanden hat, als diejenigen die er noch hat überstehen sollen, wiewol jene die größeren sind.

Ich will der erste seyn, der meinen Meister bekennt, der mehr antediluvianischen Geschmak in die erste Welt bringt. Ich bin diser sünde viel Schönheiten schuldig; und dises macht sie mir lieb.

Sind wir denn gottloser als die sünder, welche die sündflut verdient haben, man thut uns unrecht. Es muß doch etwas rechtes seyn, was den untergang des menschl. Geschlechts nach sich ziehen soll. Die antediluvianen werden es doch im guten und im bösen in 1656 jahren so weit gebracht haben als des Noah nachkommen in eben so vil jahren.

Man könnte mich nicht angenehmer überraschen als wenn ein guter Kopf einen andern Noah verfertigte. Die unschuldige liebe wird wol ihre Neigung zum zärtlichen in das Flekgen getroffen haben. Aber die Welt ist nicht lauter Zärtlichkeit. Sind sie zu blöde zum abscheu über abscheulichen sachen? Sie sollen die franz. Messiade durch Hn Kitt bekommen. Zeigen sie solche auch dem D'Arnaut. Durch ihn sende ich auch einige sachen für ihre Crit. Nachrichten, ihre freunde sagen die ⟨sünder⟩ arbeiten so ⟨gezwungen⟩ auf den sonntag das Kleid aus. Mein portrait ist noch in herba.

Verstühnden sie mich auch, wenn ich sagte:

Als Cham in einer der hellesten nächte den Himmel beschaute
Ward er gewahr daß der Angel des Erdreichs etliche grade
Woran ward ers gewahr, XXX sodes!
Von der Axe der sonne hinweg auf die seite gerükt war
Dise neuigkeit gab er bald seinen brüdern zu schauen.
Machet euch sprach er zu einer schweren Verändrung gefasset,
Künftig wird nicht mehr der lenz dem blumichten busen der Erde
Immerhin lachen, der tag und die Nacht nicht immer gleich lang seyn.
Ihr wird die sonne so scheinen, daß hier der Frost dort die hize
Kaum erträglich seyn werden; sie wird im Herbste vom Norden
Einen verlebten Winter hervorrufen, hingegen von süden
Währenden sommers ein glühen das Thier' u. menschen erstiket.
Dieses sind izo noch neue nahmen, doch müst ihr sie lernen.

Ich kan nicht sagen zu welcher Jahrszeit der Comet erschienen sey, weil nach meinem system kein unterschied der Jahrszeiten war. Kann ich ihn bey diser Beschaffenheit nicht herkommen lassen, von welchem Gestirn ich will. Ich habe nicht nöthig mich der heimischen Erlaubniß zu bedienen; mehr als acht personen würden dem Gedicht nur zur last werden. Die gothischen Falten würde ich keinem Antediluvian sondern nur dem poet in den mund legen. Was thaten die andern Zürcher in der Zeit daß Schuldheiß den Musäus übersezte, ohne zweifel was man in den lezten tagen vor der sündlflut that;

[→]Aber die Menschen trunken und lachten das schreken zum schweigen
Bis die Flut sie dahinstieß wo trinken und lachen sich enden.

Ich hoffe die Freunde deren Empfindungen ich mit ihren eigenen Ausdrüken meinen personen in den Mund gelegt habe, werden mir dises für kein plagium aufnehmen, sonst würde ich bald andere Verse an statt dieser übel angekommenen setzen. Man hat dem Voltär wider seine Semiramis Einwürfe gemacht, die er beantwortet, und die antworten schiken sich recht gut zu meinen Antediluvianen. Sehen sie ob nicht diese Antediluvianen vielmehr unglaublich als unwahrscheinlich seyn. Wer kann denn den unglauben besiegen? Die Ewigen und die Evangelischen wahrheiten werden nicht von allen geglaubt. Die Geburtsglieder der Blumen sind doch züchtiger als Virgils per membra soporem. In der sündflut sind nicht nur Mahomeden sondern auch Dunces ertrunken. Ich lasse Noahs söhne sich verwundern, daß unter ihren Nachkommen Mahomede, Charles neufs &c. seyn werden.

Kleist muß fürchten daß Ramler s. Frühling verbessere, und Ramler sorge haben, wenn er s. Original nicht verschlimmern will. Zu Göttingen wird die französ. Übersezung von Hallers Satyren gedrukt, die Tscharner verfertiget hat.

Hier sind die drukfehler. bl. 3. leset geschäfte für geschichte. längen für länge.
bl. 6. l. 6 bogen lin. ult. sein statt ihr.
bl. 7. geheftet für gerichtet. bl. 23 verjüngtest.
bl. 27: 6 bewohnern. p. 31. penult. befruchtend. bl. 33 übermannten
bl. 37. ult. winket. bl. 39: 12 ich sollt' ihn verleugnen.
bl. 41: 6 vermählten zu retten. bl. 47. ult. niedrigern.
bl. 52: 3. den blik bl. 53: 8 gemüth bl. 63: 5 zerspielte noch besser: aufschnitte.
bl. 72: 3. habet ihr bessere Götter als unsere Götter von Holz sind.
bl. 83: 8 machet. p. 86: 6 verfaulen. bl. 92: 2 verhüllen.
bl. 101. unter fanatischen lehrern. bl. 103. penult. in die Ohren
bl. 106: 6 ein fels
bl. 26 formt er ein prächtiges Eiland.
bl. 94 Sichar sprang zitternd von seinem stuhl auf.
bl. 96 hatte sich selbst zum Hohenpriester –
bl. 108. die mitte von tiefen thälern durchschnitten.

Der allererste Vers sollte stehen:

Noah war in dem Geschäfte des Herrn mit der Seraphim einem.

Denn Raphael ist nicht der oberste unter den Seraphim.
Bl. 5 ist ein vers ausgelassen.

Wild, der Kunst noch entrissen, gesezlos, in üppiger Wonne.

Ich verbleibe ihr verbundener
Bodmer.

20. febr. 1750

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

Hrn. prof. Sulzer.
Hrn. prof. Sulzer.
Woran ward ers gewahr, XXX sodes!
Woran ward ers gewahr, XXX sodes!
prächtiges Eiland
zierliches prächtiges Eiland

Stellenkommentar

Spöri
Der Verleger Johann Friedrich Spörri.
1656
In der zeitgenössischen Sintflut-Debatte ging man davon aus, dass innerhalb der biblischen Chronologie die Sintflut 1656 Jahre nach der Erschaffung Adams stattgefunden habe.
in herba
Übers. hier: »im Wachsen«.
Aber die Menschen trunken
[J. J. Bodmer], Noah Dritter Gesang, 1750, Inhaltsangabe, S. XI.
dem Voltär wider seine Semiramis
Voltaires 1746 entstandener Bühnenerfolg Semiramis wurde 1748 uraufgeführt und 1749 in Buchform publiziert. Wahrscheinlich spielt Bodmer auf die Schrift von [Jean-Baptiste Dupuy-Demportes], Parallele de la Semiramis de M. de Voltaire et de celle de M. de Crébillon, 1748, an.
Geburtsglieder der Blumen
[J. J. Bodmer], Noah, 1750, S. 49, wo es über die Töchter Noahs heißt: »Dennoch wußten sie nichts von dem Leben der fühllosen Pflanzen,/ Ihrem verschiednen Geburtsglied, noch ihren hochzeitlichen Sitten.« Bodmers zahlreiche botanische Reflexionen wurden von Albrecht von Haller in dessen Rezension des Noah in den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 24. August 1750 positiv aufgenommen. Vgl. zu botanisch-literarischen Konstellationen bei Bodmer: Kittelmann Apoll und Minerva 2018, S. 64–66.
per membra soporem
Verg. Aen. VIII, 405: »sanften Schlaf in den Gliedern«. (Vergil, Aeneis, 2016, S. 425).
Charles neufs
Karl IX. von Frankreich, in dessen Regierungszeit das Massaker an den Protestanten, die sogenannte Bartholomäusnacht fiel.
Tscharner verfertiget
[V. B. v. Tscharner], Poesies choisies de M. de Haller traduites en prose, 1750. Tscharner hatte 1750 auch eigene Gedichte drucken lassen. Vgl. dazu Tscharners Brief an Bodmer, Bern, 2. September 1750: »Die kleinen Gedichte, die ich in Göttingen habe druken laßen, sind Ihnen alle bekannt; doch halte ich mich schuldig Ihnen, dieselben mitzutheilen: sie sind fehlerhafft, wie die hallersche Übersezung.« (ZB, Ms Bodmer 5b.7, Nr. 17).
lin. ult.
linea ultima: letzte Zeile.
penult.
penultima: vorletzte Zeile.
allererste Vers
Der erste Vers in Bodmers Noah, 1750, lautet: »Noah war auf den Befehl der obersten unter den Seraphs/ Zu dem Geschlechte der Menschen ins Ebne hinunter gegangen.«

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann