Brief vor dem 29. September 1746, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: vor dem 29. September 1746

Mein werthester Herr und Freund.

Da ich Ihnen 13 gedrukte briefe schike, würden Sie mir vermuthlich verzeihen, wenn ich Ihnen nicht den 14ten mit der Feder schriebe; zumal da ich nicht viel erhebliches an Sie zu schreiben habe. Denn ich glaube daß sie folgende dinge eben von keiner großen Wichtigkeit zu seyn befinden werden. Ich will sie doch lieber mit geringen Sachen zween augenblike unterhalten, als gänzlich stilleschweigen. Ich bin sorgfältig wegen Hn Langen Übersezung der Horazischen Oden, weil ich fürchte, daß er zu stark damit eile, und weil ich in den Brämischen Beyträgen Übersezungen einiger Oden dises lateinischen dichters finde, welche vortrefflich sind, und dem Hn Pastor Lange die Schuldigkeit auferlegen, daß er seine Übersezungen eben so vortrefflich mache. Unser Freund schreibt mir, daß er von mir eine freundschaftliche Revision seiner Übersezungen erwarte, worauf er sich stark verlaße. Gesezt das wäre kein Compliment, so erlauben mir theils meine schwachen Augen, theils andere von mir selbst erwählte geschäfte nicht, mich an eine arbeit de si longue haleine zu machen. Ich bitte darum unserm redlichen freunde solches mit guter Art beyzubringen, damit er nicht glaube, ich machete mir nicht gern Mühe auf die bitte eines Freundes.

Ich habe noch eine sorgfalt, die Hn pastor Lange angehet. Er hat mir geschrieben, daß er auf begehren des Fürsten von Dessau die Einnahme von Leipzig in einem langen Gedichte besingen wollen. Dise Materie ist küzlich, sowol wegen der Sachen an sich selbst, in welcher viele wakere lebende große Herren interessiert sind, da man zum lobe der einen nichts sagen kan, was die andern nicht für einen Schimpf aufnehmen; als wegen der poetischen ausführung. Unsere heutigen Manieren, im Feld und im Cabinet leiden keine großen poetischen Hülfsmittel, zumal in einer Materie von so neuem Dato. Nicht zu sagen daß es keine große heldenthat ist, eine so kleine übelverwahrte Stadt zu überrumpeln. Wäre es nicht gut, daß sie den Hn L... von disem vorhaben abwendig machen könnten?

Ich wünschte weiter, daß Ihr Herrn Lange einen stimulum geben könntet, daß er mit einem neuen Eifer den hinterlaßenen Schriften des sel. Pyra nachforschete. Ich sehe zu dem Ende nichts nachdrüklichers, als daß man einen vornehmen Herren aufbiethen könnte, welcher mit dem unartigen Bruder des verstorbenen darüber reden liesse.

Jezo muß ich Ihnen ein paar Ideen von nüzlichen Schriften, die ein junger Mensch über sich nehmen könnte, mittheilen. Die erste ist eine Sammlung aus den Tragödien, (vornehmlich der Franzosen,) von dem Verfahren und so zu sagen von der Aufführung der leidenschaften und Neigungen, wie zum Exempel dises ist: [→]La douleur extreme choisit pour sa ressource la douleur mème, la misère, le desespoir. Sie werden dergleichen bey Corneille schon eine Menge antreffen. Sie sehen den Nuzen dergleichen Sammlung zur Erklärung der leidenschaften in poetischen Werke selber ein; und verstehen mich à demi mot. Man könnte die Sammlung durch einen Jüngling machen laßen, und dann noch eigene Anmerkungen dazu fügen.

Die Zweyte ist eine Art von Ana, nämlich Gottschediana. Man müste aus Gottscheds schriften, vornehmlich seinen lehrschriften die sonderbarsten und seltensten Observationen und lehrsätze ausziehen, welche ihm eigen und de son cru sind, zum Exempel: daß man in dem Trauerspiel das edle Du statt das Ihr brauchen solle; daß kein großer Geist aus der französischen Academie gekommen p. In seinen Anmerkungen zum Baile würde man eine Menge dergleichen finden. Eine Sammlung von solchen kleinen und närrischen Observationen, welche man für große, neue Entdekungen des Hr. professor anpreisen müste, wäre eine Sanglante Satyre. Auch dise Arbeit dürfte man einem Jüngling auszuführen geben.

Noch eins. Ich habe in den fables of the female sex sehr artige Sachen gefunden, welche dem Mädchenfreunde Gelegenheit zu Observation geben könnten an welche ihm sonst der Sinn schwerlich kommen wird. Ich hoffe sie werden dises Vorhaben nicht an einen Nagel aufgehangen haben, da ich solchenfalls hier von etwas mehrers gedenken werde.

Ich gratuliere Ihnen zu dem neuen Diacone von Winterthur, und wünsche Ihnen eine eben so anständige beföderung. Ich verbleibe

Ihr Ergebenster
Joh. Jacob Bodmer

Auf Michelis Messe 1746.

Das eine Exempl. Critische Briefe bitte Hn Gleim nebst meiner Empfehlung übergeben zu laßen. Sie könnten auch ein Stük von den Freymüthigen Nachrichten No. 35. 36. dazu legen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Datierung

Das Schreiben war auf die Michaelismesse mitgesandt worden. Der 29. September ist der Tag des heiligen Michael.

Einschluss und mit gleicher Sendung

J. J. Bodmer, Critische Briefe, 1746.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der erste Seite: »Sept. 46.«.

Eigenhändige Korrekturen

aufbiethen
bewegenaufbiethen
ein paar Ideen
erh ein paar Ideen
einem Jüngling auszuführen
einem Kinde Jüngling auszuführen
welche dem Mädchenfreunde
welche in dem Mädchenfreunde
ein Stük von
ein Exemp Stük von

Stellenkommentar

Übersezungen einiger Oden
In den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes erschienen im zweiten und dritten Stück des Jahres 1746 Übersetzungen von Oden des Horaz unter den Titeln Die bestrafte Unempfindlichkeit, An Chloen, Der Blandusische Quell und Der Tod.
Unser Freund schreibt mir
Lange kündigte in einem Brief vom 14. April 1746 an: »Ich werde immediate noch einen brief an Sie schreiben da will ich die horatzischen Oden die ich gemacht, so viel ich deren habe mitsenden.« Und am 5. September 1746 hieß es: »Ich hoffe meine Oden nun in 14 Tagen aus der Presse zu bekommen, und revidire meine Übersetzung des Horaz. Ich sehe nun, daß ich viele projecte werde abandonniren, und mich stärker auf die Poesie legen. [...] Die Ode auf die Kunstrichter, habe ich unter meine Oden, die nun heraus kommen setzen lassen. Ich will H. Orell schadloß halten, und ihm andere geben zur zweiten Auflage. Es wird auf ihr Urtheil ankommen, ob ich mehr machen soll. Ich will mich einzig auf die Ode, und die Schauspiele appliciren, daher erwarte ich dero Unterricht von dem Schauspiele.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
de si longue haleine
Übers.: »langfristig«.
mir geschrieben
Vgl. Langes Brief vom 14. April 1746: »Jetzo arbeite ich an einem Historischen Helden Gedichte, welches den Zug des Fürsten in Sachsen beschreibt, es wird wenigstens 12 bogen stark werden. Wenn H Orell solchen verlegen will, so wird er keinen Schaden haben, in dem der Fürst diese Arbeit veranstaltet hat, auch den ersten Gesang durchgelesen hat.«
mit dem unartigen Bruder des verstorbenen
Langes Brief an Bodmer, Laublingen, 5. Oktober 1745: »Die manuscripta des Sel. Pyra sind außer der Übersetzung des Virgils seinem ihn sehr unähnlichen Bruder in die Hände gefallen. Der sie vielleicht längst zerrißen hat, dieser so unerkänntliche Mensch, der meine thätliche Liebe gegen ihn, die ich ihn um seines bruders wollen erwiesen, sogar vergessen hat, antwortet mir nicht einmal, ich will aber noch einen Versuch thun.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
la douleur
Übers.: »Der äußerste Schmerz wählt den Schmerz als Quelle, das Elend die Verzweiflung«.
Anmerkungen zum Baile
Gottscheds Übersetzung von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique erschien unter dem Titel Herrn Peter Baylens [...] Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt in Leipzig bei Breitkopf in vier Bänden zwischen 1741 und 1744. Seine Übersetzung versah Gottsched mit eigenen, zum Teil sehr umfangreichen Anmerkungen sowie mit Anmerkungen von weiteren Gelehrten.
Sanglante
Blutige.
dem neuen Diacone von Winterthur
Johann Heinrich Waser wirkte ab 1746 und bis zu seinem Tod 1777 als Diakon in Winterthur.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann