Berlin den 13ten Februar 1779.
Vor einiger Zeit glaubte ich, daß ich ohne Abschied von Ihnen nehmen zu können, die große Reise nach einer vollreichern Wellt, als die gegenwärtige ist, antretten werde. Ich bin seit bald drei Monaten sehr krank, und was das schlimmste ist durch Schmerzen und Schlaflosigkeit sehr elend gewesen, und habe unglaublich viel ausgestanden. Gegenwärtig fange ich an mich etwas wider zuerhohlen, bin aber doch noch so schwach, daß ich selbs nicht schreiben kan, und mich der Feder des Prof. Müllers bedienen muß, um ihnen einige Nachricht zugeben. Ihr lezter Brief hat mir ihretwegen Kummer verursachet, weil ich daraus gesehen habe, daß Sie in ihrem hohen Alter noch mit untreüen Leüthen umgeben sind: ich hoffe aber, daß ihr Neveu Escher die besten Anstalten werde getroffen haben, Sie in Ruhe zusezen. Dergleichen Zufälle, wie der ihrige war, sind uns bei Ihnen sellten, doch bin ich vor mich glüklich genug statt meines verstorbenen treüen Bedienten wider einen sehr guten Menschen gefunden zu haben. Er ist aber auch ein Schweizer, und zwahr der Sohn eines Mannes, den Sie durch den Ruf müßen gekannt haben, der gewesene Schultheis und Operateur Angst aus Regensperg. Ich finde denn doch, daß Sie in ihren lezten Tagen darinn noch glücklicher sind, wie ich, daß Sie sich noch beschäftigen können, bei mir sind nicht nur alle Kräfte, sondern auch alle Lust zur Arbeit völlig verschwunden, so daß ich litteraliter mortuus bin. Es wird doch merkwürdig genug seyn zusehen, wie ihr Geist bis auf den lezten Athem beschäftiget und auf eine edle Arth beschäftiget gewesen. Sorgen Sie davor, daß auch von den lezten Arbeiten ihrer Feder nichts verlohren gehet. Ihre Lobrede auf Heidegger ist mir Bürge, daß Sie noch immer was lesenswürdiges zuschreiben im stand sind. Ich habe in Hofnung, daß es Ihnen nicht mißfällig seyn werde bei einer schiklichen Gelegenheit ein paar Stellen davon ausgezogen, die in das Deütsche Museum kommen werden, wo ich zugleich des dem würdigen Mann errichteten Denkmahls erwehnung thue, und sogleich die edle Aufschrift davon ganz hingesezt habe. Sie haben das Vergnügen mit dem Bewußtseyn von der Wellt Abschied zunehmen, daß eine große Menge Menschen sich ihrer lange Zeit mit warmer Dankbarkeit und Hochachtung erinnern werden, und ich bin gewiß, daß nicht nur in Zürich, sondern auch in Deütschland ihr Ruhm und Ansehen sehr lange nach ihrem Tode frisch und unverwelkt bleiben werde; und dieses ist dünkt mich das beste was man mit sich ins Grab nehmen kan. Sollten Sie vor mir die große Reise antretten, so habe ich für mich den Trost, daß ich Ihnen in kurzer Zeit nachfolgen werde. Und ich werde Ihnen den schönen Abschied, den Noah von Sipha genommen hat, nach zuruffen:
Geh mein Freünd, ich weine nicht eitele Thränen u. s. w.
Neüigkeiten erwarten Sie von mir nicht. Ich habe seit drei Monaten die Wellt aus dem Gesicht verlohren, und einigermassen schon in einer neüen weggelebt, von da aus mir diese schon beinahe unsichtbar wurde. Jezt bin ich bei aller meiner Schwachheit vergnügt, daß ich meine Tage und schlaflose Nächte ohne Schmerzen und Unruhe zubringe. Wenn Füßli noch bei Ihnen ist, so grüßen Sie ihn herzlich von mir und sagen ihm, daß die wenigen Zeilen die er mir geschrieben, mir großes Vergnügen gemacht. Bei Herr Escher entschuldigen Sie mein Stillschweigen auf seinen lezten Brief: Sollte ich wider zu Kräften kommen, so werde ich ihm die Antwort nicht schuldig bleiben. Sollten Sie Gelegenheit haben meinen guten alten Freünd den Direktor Schultheß zusehen, oder es sonst an ihn gelangen zu laßen, so versichern Sie ihn nachdrüklich meiner immerwährenden Freündschaft. Ich umarme Sie von ganzem Herzen mein theürester Freünd.
JGSulzer
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 453–454.
Der Brief wurde von Christoph Heinrich Müller geschrieben. Sulzer hat ihn mit seiner Unterschrift unterzeichnet.