Brief vom 22. März 1776, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Nun bin ich mein liebster um den 78sten Winter kalter geworden, doch dank habe der himmel, am geiste nicht verdorrter. Ich stärke mich gegen die alte lehre, daß der geist zugleich mit dem körper wachse und schwinde. Glücklicher Weise waren diese wintertage an literaren und andern phenomenen so fruchtbar, daß ich in den einsamen und nächtlichen stunden Nahrung für Kopf und Herz fand. Bald wurden meine politischen dramen auf ein pyra gelegt; bald meine kleinen Epopöen durch urtheil und Recht verdammt in Klopstoks Republik den Hund zu tragen. Dann wurden mir gesichte vom Weltgerichte gezeiget, irdischere als des deutschen Homers. Weiter ward mir der Kopf mit einem fibersystem warm gemachet, welches mit Wallungen und Schwingungen den Aether verfeinerte, daß er geistig ward, und wer ihn einhauchete brave leute wurden. Stollberg hat die systematischen Schüler des zu lange angebeteten Wolfen bey dem starken licht der Lavaterischen physiognomik von seinem Catheder auffahren lassen, wie Pluto beym Homer auffährt. Der Graf lobt den Himmel, daß seine Seele nicht ganz verstand ist, daß auch das herz will erfüllt seyn. Ein solch erfülltseyn wollendes herz hat auch Göthe, der durch fünf Actus hindurch sich unter convulsiven liebessymptomen hin und her wälzt; zwey Weiber reissen sein herz an zwo seiten zu sich, mit gleicher gewalt, daß es brechen mögte. Alle drey Bigames stehen im Begriffe die stärke der Göthischen seele durch Erstechen, Erschiessen, Erseufen zu bekräftigen; denn Göthens lehrgebäude vermag, wenn anstrengung Stärke ist, warum nicht auch Überspannung. Zum Glük besinnt man sich anderst, Fernandos Herz ist für beyde damen genugsam, beyde damen finden es überfliessend für jede von ihnen, und so gehen sie zusammen zu bette.

Wieland hat seinen deutschen Merkur gelehrt logogriphen und Aenigmen aufwikeln und loswikeln, binden und auflösen, weben und entweben. –

Doch – ich bin selbst in diesen Fehler gefallen, ich habe ihnen durch Räthsel und Gleichnisse geschrieben. Ich wollte damit, mein liebster, nur ihr Verlangen zu uns widerzukommen erhöhen. Wir haben poetische, sittliche, mystische – Phenomena gesammelt Sie zu unterhalten.

Wir erwarten von der lieblichen, gesundheittriefenden luft um Nizza die Wirkungen die Einer von unsern Mystagogen dem in der Mutter Schooß schon verfeinerten NervenSystem zuschreibt daß es den Aether durch seine Exhalationen purificiere, Ideenformen, Liebesformen und ein Blut erzeuge, welches von Liebe rauchet.

Kommen Sie denn mit dem aufgerichteten Leibe, den der Schöpfer den Menschen gegeben hat,

– – [→]caelumque tueri
Jussit et erectos ad sydera tollere vultus.

Kommen sie, sehen und hören sie mit allen facultatibus der seele und des Körpers, oder, wie unsere Hierophanten, die auf des zu lange angebeteten Wolfen Catheder gestiegen sind, lehren, mit des Körpers vermögen allein, der durch seine blosse organisation alles thun kann, was man sonst der seele zu verrichten aufgebürdet hat.

Ich sehe Ihnen mit warmem Herzen und kalter Vernunft entgegen, und so umarm ich Sie.

Ihr Ergebenst.
Bo.

Zürch den 22sten März