Brief vom 4. November 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 4. November 1774

Berl. 4 Nov. 1774.

Beym Lesen ihres lezten Briefes fühlte ich ein starkes Bedauren, daß ich bey der Unterredung mit d. L. von der Sie mir schreiben, nicht der dritte Man gewesen bin. Ich würde diese Stelle selbst mit der Bedingung angenommen haben, kein Wörtchen zu sagen, blos zuzuhören. Denken Sie hier ja nicht, daß dieses meiner, bey solchen Gelegenheiten sonst so unenthaltsamen Zunge würde unmöglich gefallen seyn. Denn würklich fange ich an dem Lauff der großen Welt mit Gleichgültigkeit und wie von weitem zuzusehen. Ich nehme an dem was vor meinen Augen geschieht nicht mehr Theil, als an dem was ich im Livius, oder Tacitus lese, und über manchen Punkt, hab ich auch meine sonst mit Hize geäußerten Meinungen geändert, und mag es wol leiden, daß die Sachen nicht nach meinem, sondern nach andrer Menschen Sinne gehen.

Mir ist izt der miles perpetuus gar nicht mehr zuwieder, und ich gebe gern einen Theil meines unstreitigen Eigenthums her, daß andere für mich nicht nur im Kriege, sondern auch in FriedensZeiten, die Waffen tragen. Ich glaube izt zu fühlen, daß weder der Handwerksman, noch der Kauffman, noch der Gelehrte, noch der durch ruhigen Genuß seines ererbten Reichthums im Überflus lebende Mensch im Fall der Noth die Wildheit, Verwegenheit, oder auch nur den Muth annehmen könnten, die im Felde gegen einen Feind nöthig sind. Also scheinet es mir, da einmal Künste des Friedens unter uns aufgekommen sind und die Hälffte jeder Nation dadurch in eine Art von Weichlichkeit versunken ist, daß es recht gut sey, wenn der ander Theil durch eine ganz besondere, ihm eigene Constitution von jenem abgesondert und in dem Zustand der Wildheit, die zu den Waffen schlechterdings nöthig ist, unterhalten wird. Krieger müßen, wenn sie gut seyn sollen, nothwendig halbe Barbaren seyn. Der Griech und der Römer war unstreitig ein beßerer Soldat, da er noch halb wild war, als nach dem er Künste gelernt und Reichthum eingesammelt hatte. Sie und ich, was wären wir für Soldaten? Und sollen wir, um es zu seyn unsre Bücher wegwerffen, unser Papier und unsre Federn verbrennen? Wie viel süße Stunden würden wir nicht dadurch verliehren? Laßen Sie uns also immer mit der kleinern Ungemächlichkeit, rohe, etwas barbarische Menschen unter uns zusehen, ihnen zinsbar zu seyn, allenfalls von ihnen Verachtet zu werden, zufrieden seyn, da wir dadurch die Annehmlichkeit eines ruhigen, stillen Lebens, und den Geisterquikenden Umgang mit den Musen erkauffen können. Die Welt scheinet izt den Lauff genommen zu haben, daß wir andere geistige Wollüstlinge, einen Cartheüser Orden ausmachen, der sehr vergnügt in seinem Closter und in seinen angenehmen Gärten lebt und der Übrigen Welt die Schäze der Erde und die Herrschafft gern überläßt.

Von F. hör ich so wenig, als wenn er schon hundert Jahre lang tod wäre. Er ist würklich der einzige in seiner Art, der seinesgleichen nicht hat, noch haben wird.

In die schniffige geistreich stuzerische Schreibart unsrer neüen Beaux-esprits kann ich mich so wenig finden, als Sie. Es lebe die edle Einfallt! Bald wird man unter uns, wie schon lang unter den Franzosen geschieht, den Stile rapide, für die erste und vornehmste Eigenschafft eines Schrifftstellers halten.

Aber ich sehe eine noch schlimmere Kezerey aufkeimen, die gewiß in kurzem allgemein werden wird. Empfindung, Gefühl, rein von aller pedantischen, kalten, dem Geschmake tödtlichen Überlegung; dieses ist izt der Wahlspruch derer, die das Ohr des Publicums haben. Sie werden diese Lehre in mancher Stelle der Leiden des jungen Werthers finden. Aber eben diese Wärme des Gefühles, von aller Vernunfft verlaßen, das nach dieser Leüte Sinn, das höchste und wünschbareste ist, jagte dem jungen Werther die Kugel durch den Kopf, nach dem es ihm unbeschreibliches Leiden verursachet hatte: eben diese Hize der Empfindung verführte den Göthe durch diese recht unbesonnene Schrifft dem Verehrungswürdigen alten J. allen Freünden des jungen Werthers, und der guten Lotte selbst, eine Wunde zu schlagen, die noch tieffer und schmerzhafter seyn muß, als die, welche die tragische That des jungen Mannes selbst, ihnen geschlagen hatte. Zu solchen Dingen verführet diese Leüte ihr eigener Grundsaz auf den sie sich so viel einbilden.

Ich umarme Sie von Herzen.

JGS.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

ander Theil durch
einander⌉ Theil der Nation durch

Stellenkommentar

F.
Der in London lebende Maler Johann Heinrich Füssli.
schniffige
Wohl »schnippig«, für »vorlaut«.
edle Einfallt
Anspielung auf Johann Joachim Winckelmanns Formulierung »Edle Einfalt, stille Größe« (J. J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke, 1756, S. 21).
Verehrungswürdigen alten J.
Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, der Vater von Karl Wilhelm Jerusalem, dessen Selbstmord literarisches Vorbild für Goethes Die Leiden des jungen Werthers war.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann