Brief vom 6. November 1773, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 6. November 1773

Ich habe, mein Theürester, ihre beyden lezten Briefe vom 15 und 27 Oct. vor mir liegen, und muß von dem lezten anfangen, der, wie Sie mir sagen, nicht in völliger Gemüthsruhe geschrieben ist. O wie sehr kränkt es mich, daß Sie die Ihnen sonst so gewöhnliche, die so sehr verdiente und in ihren lezteren Tagen so sehr nöthige Heiterkeit des Gemüthes zu verliehren in Gefahr sind! Doch sehe ich nicht ein, woher diese Veränderung mochte gekommen seyn. Sollte die Annäherung des großen Schrittes, der Ihnen bevorsteht die Ursache davon seyn, o! mein Theürester, so hören Sie mich an; mich der ofte und noch kürzlich nicht nur in der gänzlichen Einbildung war, diesen Schritt den Augenblik zu thun; sondern um ihn würklich zu thun nur noch die kleine Bewegung nöthig hatte. Ja ich hab ihn in der Nähe gesehen, den Tod, hab ihm Tieff in den Rachen geschaut, und ihn bey Gott! nicht fürchterlich gefunden. Noch izt verliehre ich ihn nie aus dem Gesichte; denn noch immer scheinet es mir, daß er mit einiger Ungeduld auf mich warte. Da Sie mein Theürester Freünd, gestorben seyn für seelig halten, so ist es ein bloßes Vorurtheil, oder viel mehr eine blos Thierische Einbildung, horror animalis, daß das Sterben selbst, als etwas übels sich vorstellt. Es ist in Wahrheit nichts, als Einschaffen. Unter zehen Tausend sterbenden, empfindet es nicht einer, daß er stirbt, und die es empfinden, sind wenigstens ohne Schmerzen. Aber in ihrem Alter stirbt man nie gewaltsam; der Bau hängt schon so sehr, daß der kleinste sanfteste Stoß ihn ins Fallen bringt und währendem Fall ist wahrhaftig das Bewußtseyn schon weg, vom Stoß aber nichts zu fühlen. So starb noch ganz neülich einer meiner Bekannten in ihrem Alter. Mit völliger Munterkeit trank er seinen The; sezte die unausgetrunkene Schale nieder, gieng nach einem großen Lehnstul, weil er sich sehr matt fühlte; schlummerte da ein und wachte nicht wieder auf. So stirbt man gemeiniglich in ihrem Alter und bey ihrer nicht starken Leibesbeschaffenheit. Hier ist also nichts zu fürchten, und wär es, so ist das Leiden in einer halben Minute vorbey. Ich bin überzeüget, daß kaum ein Mensch lebt, der nicht schon ofte sehr viel mehr gelitten hat, als er bey seinem Tode leiden wird.

Darum seyen Sie fröhlich mein Theürester, und folgen Sie einem Rath bey deßen Befolgung ich mich sehr wol befinde. Je mehr meine Kräffte abnehmen, je mehr suche ich mir alle möglichen Arten von Vergnügen zu machen. Wenn ich noch ein Jahr lebe, so werde ich ein Epicuräer werden, wie wol ich es in meiner Jugend nicht gewesen bin. Aber ich will, wofern es Gott nicht anders verhängt, ich will vergnügt die Welt verlaßen, und, wie mir izt bisweilen geschieht, unter süßem Geplauder einiger Freünde, auch zum lezten mal einschlaffen. Und Sie mein geliebtester werden vermuthlich ohne Geplauder, aber unter angenehmen in Ihnen selbst erzeügten Phantasien einschlaffen, und denn – für das übrige sind wir beyde unbesorgt. Wo Sokrates und Cicero und Antonin und so viel brave Männer hingegangen, dahin mag ich gern auch gehen.

Ziehen Sie mich wieder aus der Unruh, die Sie mir gemacht haben. Denn es war eine meiner Glükseeligkeiten daran zu denken, daß Sie ein so vergnügtes Alter haben. Nun laßen Sie mich noch von andern Angelegenheiten Sprechen. Wegman hat mir aus London geschrieben. Aber warum sprachen Sie mir nicht vor ein paar Monaten von ihm, als ich ihnen schrieb, was für einen Befehl ich vom König erhalten hatte. Ich schrieb an Sie und an Haller zugleich; aber ihr Brief gieng 8 Tage früher, als der andre ab. Sie antworteten mir, aber kein Wort über den Punkt des Mannes den ich suchte, wenigstens kein Vorschlag. Haller empfahl mir den Carrard und weil ich nicht mag, daß der König von mir glaube, ich treibe die Sache nachläßig, so schrieb ich an Carrard, um ihm den Antrag zu thun. Noch hab ich seine Antwort nicht und deßwegen kann ich auch dem Wegman nicht antworten, weil ich nicht weiß, ob jener die Sach annihmt oder nicht. So stehet izt die Sache. Aber erster Tagen muß ich Antwort aus dem païs de Vaud haben; als denn werde ich wißen, was ich nach London antworten soll.

Ich erwarte täglich Hrn. Hartmans Beruff nach Mitau. Sagen Sie ihm doch, daß er vorläufftig sich eines der beyden Männer, die er zum Profeßorat der Mathematik mir vorgeschlagen hat eventualiter versichere.

Ich vermuthete aus der wunderlichen Schreibart, daß Herder der Verfaßer des Werkgens von deütscher Art und Kunst sey. Seine Abneigung gegen mich habe ich wol gesehen. Aber ich weiß in Wahrheit nicht, was die Leüthe wollen. Sie werden wo ich nicht irre im Artikel Nachdruk eine kleine Abfertigung dieses wunderlichen Menschen finden. Meine Arbeit geht noch gut fort. Izt drukt man im Buchstaben P. Ich hätte gewünscht Ihnen den Artikel Oßian noch zu schiken, aber ich erhielt ihn zu späth. Wenn ich, so wie ich izt bin den März erlebe, so werde ich ausruffen: inveni portum etc. Denn ich werde mich doch im Hafen glauben, was auch die Herder, und Wielande und Gotter sagen mögen. Lebe ich denn noch länger, so könnte ich mich wol entschließen ein paar ganz ernsthafte Worte öffentlich mit diesen Herren zu sprechen. Prof. Müller wird immer hypochondrischer. Ich wünschte sehr, daß man in Zürich etwas zu seiner Versorgung könnte ausgemacht werden; denn für diesen nordischen Horizont schicket er sich nicht.

Sie werden im dritten Band des Merkurs eine Epistel an die Starkgeister finden, die in einem ärgerlichen Ton geschrieben. Der Mensch spricht für die Religion in dem Tone, in welchem der leichtsinnigste gegen sie schreiben würde. Was wird noch zulezt aus diesem Unfug werden?

Wieland wird sich sehr viel Verdruß mit seinem Merkur machen. Der Nachdruker deßelben rechtfertiget sich auf eine Weise, die den Hofrath sehr in Harnisch bringen wird. Den Anticato habe ich nicht gesehen. Bald wird er vermuthlich auch einen Antisocrates schreiben. Ich glaube doch, daß sich mit der Zeit einige gute Köpfe gegen die Wielandische Schule erheben werden. Dann wird man sehen, ob dieser ein beßerer, oder schlimmerer Voltaire ist. Ich umarme Sie mein theürester von Herzen. Grüßen Sie Hartman und Lavater, deßen wenige Zeilen in Hartmans Brief mir viel Vergnügen gemacht haben. Leben Sie wol.

JGSulzer

den 6 Novemb. 73.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich frco. Nrnberg.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »Habe Reichs P. empfangen.« – Siegel.

Stellenkommentar

Einschaffen
Verschreibung, gemeint war »Einschlaffen«. Den Diskurs darum, dass der Tod der Zwillingsbruder des Schlafes sei, gibt es seit Homer. Auch Lessing, von dem Sulzer hier eventuell inspiriert war, ging 1769 in seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet darauf ein. Vgl. auch Formeys Éloge auf Sulzer, 1779, in der er dessen Tod als Einschlafen schildert: »er schlief vielmehr im eigentlichen Verstande ein; denn sein heiteres Gesicht machte es eine Zeitlang zweifelhaft, ob er sich ausruhe oder gestorben sei.« (S. 42).
der Bau
Wohl eigentlich »Baum«.
The
Tee.
und Antonin
Der römische Kaiser und Philosoph Mark Aurel (auch Marcus Aurelius Antoninus Augustus), wie Cicero ein Stoiker. Sokrates inspirierte die Stoa-Schule, auf die Sulzer hier anspielt.
Wegman hat mir aus London geschrieben
Nicht ermittelt.
schrieb ich an Carrard
Nicht ermittelt. Vgl. dazu auch Carrards Brief an Albrecht von Haller vom 22. Oktober 1773 (BB Bern N Albrecht von Haller 105.9, Carrard): »Je vous avoue, Monsieur, que je me fais quelque peine de m’expatrier dans un pais aussi éloigné que le Brandebourg, et dont on ne revient pas aisément. Je me suis aussi formé peu-à-peu une bibliothèque assortie à mon goût et à mes études. Il me fâcheroit de m’en voir privé, et d’être reduit à vivre d’emprunt à cet égard sans pouvoir en acquerir de nouveaux, vû la modicité des appointemens que je tirerois pendant la vie de Mr. Sulzer. Car Mr. Sulzer me dit dans sa lettre qu’il garderoit la maison qui lui est affectée, et que des 800 Rhisdalles qui forment sa pension il ne men laisseroit parvenir que 500 tant qu’il vivroit; ce qui suffiroit seulement dans ce païs-là pour mon entretien, et ne me donneroit pas du superflu. Il ne parle point des fraix du voyage qui seroient considérables.« Übers.: »Ich gestehe Ihnen, mein Herr, dass ich einige Mühe habe, in ein so entferntes Land wie Brandenburg auszuwandern, von dem man nicht leicht zurückkehrt. Ich habe mir auch allmählich eine Büchersammlung nach meinem Geschmack und meinen Studien gebildet. Es würde mich ärgern, sie zu entbehren und in dieser Hinsicht auf Ausleihe beschränkt zu sein, ohne neue Bücher besorgen zu können, gemessen an der Bescheidenheit des Gehalts, das ich für die Zeit des Lebens des Herrn Sulzer bezöge. Denn Herr Sulzer sagt mir in seinem Brief, dass er das ihm zugewiesene Haus behalten würde und von den 800 Reichstalern seiner Rente mir nur 500 zukommen ließe, solange er lebt; was in jenem Land nur zu meinem Unterhalt hinreichen würde und mir keinen Überfluss übrig ließe. Er spricht nicht von den Reisekosten, die beachtlich wären.« Carrard hatte zudem Aussichten auf einen Posten in Lausanne, und wollte erst Hallers Rat abwarten. Sulzer hatte ihm geschrieben, dass er ihn dem König empfehlen wolle, wenn Carrard Interesse an der Stelle in Berlin bekunde. Dieser wartete jedoch mit seiner Entscheidung und entschied sich schließlich dagegen.
im Artikel Nachdruk eine kleine Abfertigung
Vgl. die entsprechende Anspielung auf Herder im Artikel »Nachdruk« im zweiten Band der AT: »Ein neulicher Kunstrichter* (*Der Verfasser der Briefe über den Oßian in dem Werkgen, das unter dem Titel von deutscher Art und Kunst in Hamburg herausgekommen ist.) scheinet zu bedauren, daß unsre Dichter nicht mehr so durchaus nachdrüklich sind, wie die alten Celtischen Barden.« (1774, S. 801). Vgl. zu Herder und Sulzer auch Kittelmann Archiv der Critik 2018, S. 34 f.
Müller wird immer hypochondrischer
Christoph Heinrich Müller war zeitlebens kränklich und von depressiven Stimmungen gezeichnet. Die psychischen Leiden hielten auch nach seiner Rückkehr aus Preußen nach Zürich an.
eine Epistel an die Starkgeister
[F. W. Gotter], Epistel über die Starkgeisterey. In: Der Teutsche Merkur, Juli 1773, Bd. 3, S. 3–38. Signiert ist der Artikel mit G–r [Friedrich Wilhelm Gotter].
Nachdruker deßelben
Zum unerlaubten Nachdruck durch den Danziger Buchhändler Jobst Hermann Flörcke siehe auch Wielands »Nachrichten an den Leser«. In: Der Teutsche Merkur, 1773, Bd. 3, S. 298 f.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann