Brief vom 8. Februar 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 8. Februar 1774

Ich schreibe heüt an Hrn. Hartman, um ihm zu melden, daß seine Vocation nach Mitau bey mir eingegangen, und er sich zur Reise anschiken solle; bey dieser Gelegenheit muß ich, mein theürester Freünd, auch einen kurzen Besuch bey Ihnen ablegen, um Ihnen zu sagen, daß ich noch immer fortfahre in denselben Umständen zu leben. Meine Krankheit verzehret mich nur langsam, und es scheinet, daß sie mir Zeit laßen werde mein Werk zu vollenden, das nun dem Ende ziemlich nahe ist. Ich habe an mehr Orten sehr freymüthig mit Wielanden gesprochen, und ihm seine manigfaltigen Versündigungen gegen den guten Geschmak ernstlich, aber anständig vorgehalten. Seine blinden Verehrer werden trefflich auf mich losziehen, aber die Verehrer der Vernunfft und der Sitten werden mich durch ihren Beyfall schadlos halten.

Ich habe an Wegman geschrieben um ihm zu sagen, daß ich hoffe ihn zu meinem Adjunctus zu bekommen, wenn er sich entschließen wird im Frühling hieher zu kommen. Ihre wiedererlangte Heiterkeit des Geistes hat mir großes Vergnügen verursachet. Nun hoffe ich bald von Hr. Hartman mehr von ihnen zu hören. Mit was für ausnehmenden Vergnügen ich ihn über alles, was Sie angeht, ausfragen werde!

Ich erfahre immer mehr, daß unser Pr. Müller hier nicht an seinem Orte steht, und wünsche sehr, daß er in seinem Vaterlande Versorgung finde. Vor acht Tagen ist mir ein Enkel gebohren worden, deßen ich mich mit den Ältern sehr erfreüe.

Ich werde immer dreister die izigen Verderber des Geschmaks blos zustellen und laße nicht leicht eine Gelegenheit vorbey gehen ihre Vergehungen zu rügen und den unpartheyischen die Größe derselben zu zeigen. Aber die meisten Liebhaber der deütschen Literatur taumeln in einem Schwindel, der sie nicht richtig sehen läßt. Den größten Ungereimtheiten, daß Ramler der deütsche Horaz sey und daß Weiße glüklich für die Tragische Schaubühne gearbeitet habe, getraut sich kaum jemand zu wiedersprechen.

Wenn mein Vorhaben mit Wegman gelinget, so hoffe ich künftigen Herbst mich in Zürich mit Ihnen zu lezen, und werden wir beyde uns in dem Vorgemach des Paradieses, dahin wir bald gehen werden befinden. Ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

den 8 Febr. 1774.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am rechten Rand der Umschlagseite: » In Lauragais Art dramatique ist die natur meiner politischen Dramen entwikelt. In Terrasons Dissertation sur l'iliade findet man die ursache warum Homer unsern Zeitgenossen nicht gefällt, warum keine übersezung von ihm gemacht werden kann, die gefalle, und warum die schallreichste nicht gefallen würde. Emovi nolo sed me esse mortuum nihili æstimo. Epicharm.« (Bodmer zitiert hier Cic. Tusc. 1, 6). – Vermerk Bodmers am linken Rand der Umschlagseite: »empfangen den 17 febr. aus Ludwigsburg«. – Siegelausriss. – Siegelreste.

Stellenkommentar

schreibe heüt an Hrn. Hartman
Nicht ermittelt.
mit Wielanden gesprochen
In der AT, Bd. 1, 1771, z. B. im Artikel »Abentheuerlich« (S. 3) und »Aventüre (Dichtkunst)« (S. 83) sowie Bd. 2, 1774, im Artikel »Klarheit« (S. 592), »Lächerlich (Schöne Künste)« (S. 649) und »Lehrgedicht« (S. 690).
an Wegman geschrieben
Nicht ermittelt.
mir ein Enkel gebohren worden
Carl Anton Graff, der spätere Landschaftsmaler, hatte am 31. Januar 1774 das Licht der Welt erblickt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann