Brief vom 27. Dezember 1746, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 27. Dezember 1746

Mein Herr und werthester Freünd.

Gestern Abend erhielte beykommendes Päkgen von dem Herrn von Hagedorn, welches ich Morgen über Leipzig nach der Schweiz befördern kann. Ich kann es nicht ohne einen Brief abschiken, ob ich gleich nichts erhebliches zuschreiben habe. Unser Herr Past. Lange war neülich in der Wahl, da ein neüer Prediger an eine von den hiesigen Kirchen ist gewählt worden. Er ist aber ausgefallen. Denn die Gemeinde, welche gewählt hat ist von einer solchen Beschaffenheit, daß man leichte voraussehen konnte, daß ein schlechter Prediger einem weit beßern würde vorgezogen werden. Ich halte meiner seits dafür, daß es beßer für ihn und für seine Muse ist, daß er in Laublingen bleibt. Jezo hat er, wie ich vermuthe den Horaz wieder auf die Seite gelegt und arbeitet nun an einer poetischen Auslegung der 7 lezten Worten Christi. Ich habe die Probe davon gesehen und verspreche mir daher nicht allzu viel von diesem Werkgen, das auf Ostern soll gedrukt werden. Ich därff ihm aber meine Meinung davon nicht sagen, weil er es mir als eine Erklährung gegen die Materie würde aufnehmen. Denn ich bin bey ihm unschuldiger weise in Verdacht gekommen, daß ich nicht viel von der Religion halte, weßwegen ich hierin gänzlich stille seyn muß. Der Hr. M. Meyer hat den ersten Theil seiner Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst heraus gegeben und ihm ein Schreiben an Sie und den Hrn. C. Breitinger forgesezet. Diese Schrifft gefällt mir weit beßer, als seine Vorrede zu den Horazischen Oden. Ich will sehen, daß ich sie ihnen bey dieser Gelegenheit überschiken kann.

Hr. Gleim schreibt mir in allen Briefen, er fürchte Sie möchten ihn vergeßen, weil er nicht an Sie schreibt. Er giebt vor, daß es ihm unmöglich sey in seinen Umständen an Sie zu schreiben. Der gute Mann mag wol ein wenig in der Enge seyn, weil es so lange mit seiner Beförderung anstehet.

Was mich endlich betrifft, so werden Sie schon gehört haben, daß ich auf künfftiges Frühejahr Gel. G. werde nach der Schweiz reisen. Ich habe nun seit einiger Zeit die zweyte Ausgabe des Versuchs von der Erziehung ausgearbeitet, davon ich die 10 lezten Bogen durch diesen Fuhrman an Hrn. Waser schike. Nun arbeite ich an philosophischen Gesprächen über allerley wichtige und angenehme Materien aus der Morale und Philosophie, wie auch an dem Mädchen Freünd, und ich sammle neüe Memoires zu moralischen Betracht. über die Naturwerke. Dieses ist alles neüe so ich ihnen berichten kann.

Einer meiner Freünde, Hr. Spalding Schwedischer Legations Secretar, wird bald des ber. Schafftsbürys Untersuchung von Tugend und Verdienst herausgeben. Sie werden ohne Zweifel seine Übersezung von den Moralists ebendeßelben Verfaßers gesehen und gelobt haben. Ich liege ihm sehr an noch mehrere von dieses fürtrefflichen Mannes Schrifften zu übersezen und wenn er sich noch länger weigert, so will ich ihm mit einer Übersezung von meiner Art drohen.

Ich bitte an den Hrn. Can. Breitinger meine ergebenste Empfehlung zu machen und verharre mit vollkommener Hochachtung

Meines Hrn. und werthesten Freündes

ergebenster Diener
JGSulzer.

Magdeb. den 27 Decemb. 46.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

à Monsieur Bodmer Membre du grand Conseil et Professeur à Zurich. mit einem paquet in Leinen P. B. gezeichnet.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Paket von Friedrich von Hagedorn.

Vermerke und Zusätze

Siegelausriss. – Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

beßern würde vorgezogen
beßern ⌈würde⌉ vorzogezogen

Stellenkommentar

Auslegung der 7 lezten Worten
S. G. Lange, Poetische Betrachtung der Sieben Worte des sterbenden Erlösers, 1757. Die Schrift wurde erst zehn Jahre nach der Erwähnung in diesem Schreiben Sulzers im Verlag Johann Justinus Gebauers publiziert.
ersten Theil seiner Beurtheilung
Meiers Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst erschien in sechs Stücken zwischen 1747 und 1748. Dem hier erwähnten ersten Teil war ein Schreiben an des Herrn Canonicus Breitingers Hochehrwürden, und an des Herrn Professor Bodmers Hochedelgeboren vorangestellt, mit dem Meier »öffentlich« seine »Ergebenheit bezeugen« wollte.
zweyte Ausgabe des Versuchs
[J. G. Sulzer], Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder. Zweyte stark vermehrte Auflage, 1748.
philosophischen Gesprächen
Vorstudien zu den Unterredungen über die Schönheit der Natur (vgl. SGS, Bd. 5), die unter dem Einfluss der Beschäftigung mit Shaftesburys Moralists standen und 1750 veröffentlicht wurden. In einem Brief an Johann Joachim Spalding vom 29. April 1747 berichtet Sulzer von einer Arbeit an »phil. Unterredungen« (Dehrmann Shaftesbury und die deutsche Aufklärung 2008, S. 230), nachdem er erste Entwürfe bereits am 19. Dezember 1746 Gleim und Spalding übersandt hatte: »Hier schike ich ihnen den Anfang meiner Philosophischen Gespräche, Hrn. Spalding und ihnen zur Censur. Je mehr sie sich befleißen werden mich zu critisiren, desto mehr werden Sie mich verbinden. Nehmen Sie dieses nicht als ein Compliment auf. Es soll keine Uneinigkeit zwischen uns beyden entstehen, wie zwischen Lange und ihnen ehemalen meiner Critik wegen entstanden ist. Dafür bin ich ihnen gut. Laßen Sie sich aber, ehe sie die Critik anfangen von Hrn. Spalding lesen, was ich ihm deswegen geschrieben habe.« (GhH, Hs. A 4081). Sulzers Unterredungen zirkulierten im Freundeskreis, wie Hinweise in Briefen Ramlers (Schüddekopf (Hrsg.) Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler 1906, Bd. 1, S. 109) und Kleists (Sauer (Hrsg.) Briefe von Kleist 1880, S. 67) zeigen.
neüe Memoires zu moralischen Betracht.
Trotz seines Vorhabens verfasste Sulzer nach 1745 anscheinend keine neuen »moralischen Betrachtungen«. In der zweiten Auflage der Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur von 1750 erklärt er sich darüber: »Ich ersuche meine Gönner und Freunde, die Unterredungen zweyer Freunde über die Schönheit der Natur, als eine Fortsezung dieser Abhandlungen anzunehmen. Die Geschäfte, in welchen ich iezo stehe, erlauben mir nicht weitläuftige Betrachtungen über solche Sachen aufzusetzen, insbesondere, da dazu eine stille von der Welt etwas entfernte Lebensart erfordert wird.« (Ebd. Vorbericht). Vgl. SGS, Bd. 5.
Hr. Spalding
Der 1714 im damals zu Schweden gehörenden Tribsees geborene Theologe Johann Joachim Spalding war 1745 Sekretär des schwedischen Gesandten von Rudenskjöld geworden. Nachdem er 1749 nach Lassan berufen wurde, ließ er sich 1757 in Barth nieder, wo er 1763 längere Zeit Johann Caspar Lavater, Felix Hess und Johann Heinrich Füssli bei sich zu Gast hatte. 1764 wurde Spalding Probst an St. Nikolai in Berlin. Spalding pflegte Freundschaften u. a. mit Sulzer, Gleim und Ramler. Vgl. Beutel Johann Joachim Spalding 2014.
bald des ber. Schafftsbürys
Die Untersuchung über die Tugend mit einer Vorrede Spaldings erschien im Frühjahr 1747. Vgl. zu Spaldings Übersetzungen und Rezeption Shaftesburys: Raatz Aufklärung als Selbstdeutung 2014, 104–223. Neben Spalding setzte sich Sulzer intensiv mit Shaftesbury auseinander. Diese Auseinandersetzung war Dehrmann zufolge auch die Grundlage ihrer Freundschaft, die durch Gleim vermittelt worden war. Vgl. Dehrmann Shaftesbury und die deutsche Aufklärung 2008, S. 229–236, hier S. 230. Zunächst standen Sulzer und Spalding nur in Briefkontakt, nach Sulzers Übersiedlung nach Berlin trafen sie sich häufig persönlich.
seine Übersezung von den Moralists
J. J. Spalding, Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen (Übers.), 1745.
Übersezung von meiner Art
Für das Jahr 1748 ist Sulzers Arbeit an einer Übersetzung von Shaftesburys Letter concerning Enthusiasm nachgewiesen (Dehrmann Shaftesbury und die deutsche Aufklärung 2008, S. 227). Auch Gleim und Langemack arbeiteten in dieser Zeit an einer Übersetzung dieser Schrift Shaftesburys (Raatz Aufklärung als Selbstdeutung 2014, S. 138).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann