Brief vom 31. August 1755, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 31. August 1755

Herrn professor Sulzer

Mein theuerster Freund.

Wie sehr sind Ihnen frömmigkeit, tugend, gutes Herz, unschuld der Sitten nicht verbunden, dem einzigen Manne der sie im Noah erbliket, und es hat öfentlich gestehen dürfen! Denn es ist an dem, daß diese töchtern des Himmels den Menschen danken müssen, wenn sie von ihnen erkannt werden, an statt daß die Menschen Ihnen sollten dank wissen, wenn sie ihnen irgend auf ihren wegen begegnen. Ich meine ich dürfe mit gutem gewissen danken und salvo pudore gestehen, daß Sie ungeachtet aller Verführungen, die man von dem freundschaftlichen Herzen argwohnen könnte, dem Noah mehr nicht, oder nicht viel mehrers als Recht haben widerfahren lassen; ich müste fürchten wenn ich hierüber zu sittsam denken wollte, daß ich Ihrem verstande und herzen mehr unrecht als meinen gedichten recht anthun würde. Sie, mein Freund, sind die biene, die tausend gemeine pflanzen vorüberfliegt, sich auf die verlassene zu setzen, aus deren meel sie ihren honig sauget. Für sie hat das pythagorische Y, das griechische sylbenmaß nichts ungerades welches das gute so dabey stehet, verstekete, oder verdunkelte. Sie schütten nicht, wie man bey uns redet, das Kind mit dem Bade aus. Dafür muß ihnen nicht der poet allein sondern alle müssen Ihnen danken, welche es mit unschuld und guten sitten wohl meinen. Der Himmel belohne sie mit solchen goldenen stunden, als die waren, die ich diesen Sommer in Trogen und Winterthur, und mit solchen freunden als die waren mit welchen ich dise goldenen stunden zugebracht habe. Ich bin glücklich daß ich die böse welt beynahe allein aus Büchern kenne; die vorsehung hat mich in den umgang mit solcher Menschen geführt, die mir die bosheit und die dummheit der andern ganz fremde und oft unglaublich machen. Lassen sie sich unsern wehrtesten Hr. provisor und den ungemeinen Hn stadtschr. Sulzer sagen, was für würkungen die Neologischen Anfälle auf mich haben; und wenn sie den Tapage vernehmen, den ein gottseliger geistlicher Herr wegen eines sendschreibens angestellt hat, so klagen sie mich der ungeduld an, wenn sie können. Ich bin zwar kein solcher puritaner, der nicht leiden könne, daß Wieland und Geßner in ihren humorischen stunden eine streiferey in die provinzen der dunse vornehmen; die Verbindung diser Herren mit Gleim und Ramler hat doch noch keine grossen folgen gehabt. Gleim hat für Uzen gebeten, der sich in der neuen auflage seiner lyrischen lieder für die schöpsen erklärt hat. Kästner hat es längst mit Ihnen gehalten, wiewol er Haller der Zweite heissen will. Ich habe Ihnen ein Paket von Kleinigkeiten destiniert, welches sie durch die Meßleute bekommen sollen. Man sagt, Hr. Haller habe versprochen, unter wenigen wiewol äusserst harten bedingungen zu Ihnen zu gehen.

Ich hoffe, daß sie von Rahn, Meyer und Escher, die gegen den Winter zu ihnen kommen werden, einiges vergnügen haben werden. Es sind gute herzen. Lieben sie immerfort

Ihren Ergebenst. Dr.
Bodmer

d. 31. August 55

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

verbunden, dem
verbunden, daß dem
dank wissen, wenn
dank sagenwissen⌉, wenn
nichts ungerades welches
nichts verderblichesungerades⌉ welches
stehet, verstekete
stehet, um verstekete

Stellenkommentar

salvo pudore
Abgewandeltes Zitat aus Ov. Pont. I, 2, 66: »salvo vestra pudore«. Übers.: »Ohne Verletzung der Ehrfurcht«. (Ovid, Briefe vom Schwarzen Meer, 2011, S. 305).
Tapage
Übers.: »Lärm«.
neuen auflage seiner lyrischen lieder
[J. P. Uz], Lyrische und andere Gedichte, 1755. In der Vorrede positionierte sich Uz neutral zwischen den literarischen Lagern und veranlasste Bodmer zu dieser Anmerkung etwa durch folgende Sätze: »Da übrigens der deutsche Parnaß mit sich selbst uneinig und in gewisse Secten getrennet ist: so kann kein heutiger Dichter sich einen gewissen und allgemeinen Beyfall versprechen. Er wird allezeit von einigen getadelt werden, bloß weil er von andern gelobet wird. [...] Sollte er aber bloß deswegen mit seinen Meinungen, in Sachen, die den guten Geschmack betreffen, geheuchelt haben, weil sie von den Grundsätzen anderer angesehenen Kunstrichter abgehen?«
schöpsen
Synonym für Hammel, Schaf. Bodmer und Sulzer verwenden den Begriff häufiger für schlechte Dichter.
Rahn, Meyer und Escher
Hans Heinrich Rahn-Heß sowie vermutlich Caspar Meyer von Knonau (1737–1808), Sohn von Ludwig Meyer von Knonau. Escher nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann