Brief vom 22. August 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Bern
Datum: 22. August 1762

Bern den 22 Aug.

Mein theürester Freünd

Nur noch wenige Tage, so habe ich das so lange gewünschte Vergnügen, Sie noch einmal würklich zu umarmen und ihres leiblichen Umganges zu genießen. Dieser wird mich die Lasten von Kummer und Beschweerlichkeiten, die ich seit 3 Jahren gefühlt, vergeßen machen. Ich habe mir vorgenommen den ganzen Winter bey Ihnen zu seyn, und ich fühle schon jezo das sanfte Zittern durch alle Nerven meines Leibes, welches die mit der größten Zärtlichkeit verbündene Freüden verkündiget. In ein paar Tagen reise ich nach Roche um Hallern zu besuchen, dem ich zwey Tage gewiedmet habe, alsdenn fliege ich in ihre Arme. Gegenwärtig bin ich zu voll Empfindung um irgend etwas deütlich zu denken, oder auf die Artikel ihrs Briefes zu antworten. Die Hrn. Tscharner, Fellenberg, Wilhelmi, Stapfer p. haben mich mit mehr als gemeiner Freündschaft aufgenommen. Aber erst Morgen, werde ich dem würdigen Hrn. v. Bonstätten sagen können, wie hoch sie ihn schäzen. Meine Briefe aus Magdeb. bestätigen ihre Vermuthung über die Gesinnungen der Rußischen Kayserin. Wie wenn diese Fürstin selbst wäre gezwungen worden gegen ihren Gemal zu thun, was Sie gethan hat? Ihre eigene Sprache, und ihr eigenes Betragen gegen den König von Pr. scheinet der Sprache, die man ihr in den Mund gelegt hat schnurgerade entgegen. Tscharner kam den Tag meiner Ankunft in Bern von Rousseau zurüke. Ich habe eine so große Meinung von Friedrich, daß ich Roussaux Grundsäze größten Theils für seine eigene halte, und ich traue ihm zu, daß er nach diesen Grundsäzen handeln würde, wenn er könnte. Es wird ein großer Verlust für seinen Ruhm seyn, wenn er nicht lange genug lebt, oder nicht Ruhe genug hat, seine Grundsäze in der Regierung würklich anzuwenden. Auch davon wollen wir uns in Vertraulichen Stunden unterhalten. Vielleicht kann ich Ihnen in einigen Tagen, den Tag meiner Ankunft melden.

Ich umarme Sie herzlich.
Sulzer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Datierung

Von fremder Hand am oberen Rand der ersten Seite ergänzt: »1762.«

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Siegelreste.

Stellenkommentar

Briefe aus Magdeb.
Vgl. z. B. den Brief H. W. Bachmanns d. J. an Gleim, Magdeburg, 2. August 1762: »Die Nachrichten aus Rußland sind nicht mehr so fürchterlich als sie waren. Peter lebt, er hat auf das Reich renunciren müßen; hat einen kleinen HofStaat zu Oranienbaum, und wird durch 50 Mann von der Garde bewacht. In Petersburg werden lauter Festins gegeben, und Caterine scheint so sehr nicht unsere Feindinn zu seyn, als man es im Anfang fürchtete. [...] Indeßen widerspricht ihr Verfahren in Preußen, wo sie sich aufs neue der Einkünfte des Landes bemächtigt haben, allen bis jezt gethanen Versicherungen. Und was kann man für Danckbarkeit von einer Frau erwarten die ihren Mann vom Throne stößt!«. (GhH, Hs. A 103).
von Rousseau zurüke
Zu Rousseau und Vincenz Bernhard von Tscharner vgl. Hamel (Hrsg.) Rousseau in der Schweiz 1881.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann