Brief Dezember 1771 – 29. Februar 1772, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: Dezember 1771 – 29. Februar 1772

Lassen sie mich liebster Freund von dem anfangen wovon das Herz voll ist. Die Nachricht daß sie eine tragödie geschrieben war für mich ein Lekerbissen. Izt sind sie eigentlicher mein College in Apollo. Mir gefällt das Zeugniß das sie selbst ihr ertheilen sie sey so gut als sonst eine der neuern. Denn ein Autor darf doch auch die Wahrheit von seinen eigenen sachen reden. Gewiß ist sie so gut, daß die Klozen alles böse von ihr sagen würden, wenn sie ihnen nicht zu furchtbar wären. Ich bin doch schlimm genug zu wünschen daß Lessing und Kloz und Nicolai und Weisse ihr Werk verurtheilten, weil ich mir dann vorstellte, dise leute hätten auch meine gedichte verworfen, weil sie für sie zu gut wären. Ich hoffe aber die Kochische Truppe werde Ihnen vom grund des herzens danken daß sie durch ein Werk von Bonsens und Sentiment ihnen die marter abnehmen die sie sonst litten, wenn sie dinge lernen mußten, die weder in ihrem Kopf noch in ihrem Herzen seyn konnten. Es soll die lezte Probe seyn, ob wir noch hoffnung zu einem denkenden und fühlenden publicum haben dürfen. Der mangel an Versification muß dem Werk mehr nüzen als schaden. Reime hätten den Ausdruk hundert male verderbt, und Hexameter wären zu stark für die schwachen deutschen Hirnschalen. Stören sie mich nicht in der Aussicht daß ihre Grundsäze das publicum durch lehren und die Tragödie durch Exempel und Intuition umwenden werde. Die beyden Exemplar, die sie Dr. Hirzeln und mir geschenkt haben werden hier von zwanzig mehr gelesen, die von ihren finances gehindert werden ein werk von 9–10 gulden zu kaufen.

Ihre Töchter sind bey Hr. Graf in so guter Verwahrung daß sie mein Freund, mit dem gehörigen Unterschiede, über ihre Entfernung so beruhiget seyn können, als ich über die Entfernung meiner Kinder lange her gewesen bin. Ich halte es für Vorsehung, die für den Geschmak Deutschlands sorget, daß sie izt mehr muße haben Ihr theoretisches Werk zu vollenden. Ich wollte daß Wieland der unzufriedenste damit wäre, weil ich dann hoffete, sein mißvergnügen entstünde von dem gefühl seines falles. Ich erlaube Klopstoken die höchste spize des seraphischen stils, weil es ein phenomene in der Poesie ist. Lavater macht izt Strophen auf einzele Blätter, die man für Talismane oder fetiches an sich tragen soll. Der prosector und dissector Haller hat sich in seinen Briefen für die Religion zu einem braven Curé de Village herabgestimmt. Wir erwarteten von ihm nicht was wir schon haben. In Losanna hat Hollander eine Refutation du systeme de la nature unter der presse. Ich bin zu kurzsichtig die Mittel zu entdeken wie Zürch jedem Hausvater ein Eigenthum geben könte, wovon er seine Familie unterhalten könnte. Vielleicht wenn wir ein Drittel weniger ässen, denn wir könnten richtig ein drittel weniger essen und stark und gesund leben. Aber das wird uns kein Lycurgus kein Apostel Gottes selbst überreden zu thun.

Ihr Nefe hat mich im geist zu ihnen in ihr Haus gebracht. Wie kömmt es daß er selbst auch von dem gewesenen Schuldheiß nicht lauter gemeinnüziges denkt?

Die Schwedische Königin wird sie zum Wenigsten sehen wollen wie man einen Aristides sehen würde, der wider auferstünde, wie ein Ideal oder gar wie eine Chimäre. Der Hunger und die aufbrausende gährung sind gewiß eine Frucht der Wielandischen perfectibilitet in seinem Koxkox.

Im December 1771.

den 29. febr.

Jedermann hier ist mit ihrer Theorie ungemein zufrieden; am meisten die besten köpfe. Man verurtheilt die deutsche nation zur dummheit, wenn sie noch izt nicht bekehrt wird. Hr. Ott ist zurükgekommen, er posaunet ihre Gefälligkeit für ihn. Er hat mir aber den Adelbert von Gleichen nicht zurükgebracht. Ich danke ihnen, daß sie dises unvollendete ding in ihrem Pult behalten haben. Aber ihr trauerspiel! Immer ergezt mich der gedanke daß Sulzer ein drama geschrieben hat. In der Entzükung, in welche der blosse gedanke, was es wol für eines seyn möchte, mich gesezt hat, hab ich selbst auch eines geschrieben. Den Patroclus, das einfachste stück, das seit Aeschylus gemacht worden. Möchte ich ihm flügel anhängen können, daß es zu ihnen flöge, und sie mir sagten, ob ich im 74sten jahre des lebens in die kindheit zurükgefallen sey. In einem Journal, das zu Bern gedrukt wird, ist Karl von Burgund, auch ein Trauerspiel, begraben. Eben so einfach als der Patroclus. Die Berner sind darinn mit der größten Feinheit gelobt; und es dummheit, wenn sie dem Verfaßer nicht durch eine Rathserkenntniß danken. Der Patroclus sollte doch einem parterre von militaires gefallen. Wie angenehm würden sie mein Liebster, mir die abnehmenden jahre machen, wenn wir wöchentlich nur eine stunde von dergleichen Angelegenheiten schwazen könnten! Auf die Messe sollen sie den Karl von Burgund von mir bekommen.

Geßner hat Idyllen gedrukt, die so unschuldig und so sanft sind als die vorigen. Diderot hat ihm Erzählungen geschikt, die über Collisionen des naturrechtes mit den Civilrechte laufen; und verlangt daß er sie deutsch übersezen und zu den Idyllen druken sollte. Geßner hat ihm gefolget. Sie passen zu den Idyllen wie Stille und Tumult.

Ich habe die liebe zum Rathhaus beynahe verlohren. Die Schulreforme hat wieder einen Trieb bekommen. Aber das Institutum der Kunstschule steket. Wir haben alle Baarschaft um die Bicoque Ramse verschikt. Indessen glaubt die Welt wir haben schätze zu verschwenden. Straßburg macht eine Foderung an Zürch und Bern von Gulden 70 000. die wir ihr vor 200 jahren ⟨abgeborget⟩ und nicht mehr gewußt p. p.

der Ihre

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der dritten Seite: » Decemb. 71.«

Stellenkommentar

beyden Exemplar
Vgl. Sulzer an Hirzel, Berlin, 8. September [1771]: »Wenn Sie sich frühe genug bey unserm ehrwürdigen Greisen im Berg melden, so wird er Ihnen ein Exemplar von dem ersten Theil meines Wörterbuchs geben. Wegen der kleinen Auflage konnte ich ihm nicht mehr als Zwey Exempl. schiken, davon er ohne Zweifel eines für sich behalten wird.« (ZB, FA Hirzel 237).
Lavater macht izt Strophen auf einzele Blätter
J. C. Lavater, Christliches Jahrbüchlein, oder auserlesene Stellen der Schrift, für alle Tage des Jahrs, 1772.
seinen Briefen für die Religion
A. v. Haller, Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung, 1772.
Losanna
Lausanne.
Hollander eine Refutation du systeme de la nature
Georg Jonathan Hollands gegen D'Holbachs Systeme de la Nature gerichtetes Werk Réflexions philosophiques sur le Système de la nature, 1772.
in seinem Koxkox
Wielands Geschichte von Koxkox und Kikequetzel machte im Erstdruck das erste Buch seiner anonymen Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens von 1770 aus.
Den Patroclus
Bodmers Patroclus, Ein Trauerspiel; nach dem griechischen Homers erschien 1778 in Augsburg bei Johann Jakob Mauracher.
einem Journal, das zu Bern gedrukt
J. J. Bodmer, Karl von Burgund. In: Schweizer-Journal, 1771, St. 6, S. 33–83.
es dummheit
Eigentlich »es ist dummheit«, Verb von Bodmer vergessen.
Diderot hat ihm Erzählungen geschikt
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1771-07-29.html.
Foderung an Zürch und Bern
Straßburg hatte mit Zürich und Bern 1588 einen Bund geschlossen und Hilfsgelder an die Kantone geliefert, die es schon einmal 1687 zurückverlangt hatte. Vgl. dazu L. Meister, Hauptszenen der Helvetischen Geschichte, Bd. 2, 1784, S. 78.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann