Brief vom 8. Dezember 1770, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 8. Dezember 1770

vom 8 Decemb 1770.

Mein theürester Freünd.

Da ich unsern Dr. Hirzel wegen der Pest beruhige, von deren Annäherung wir hier nichts hören, muß ich auch mit Ihnen ein viertel Stündchen plaudern. Schon seit zwey Monaten suche ich eine Gelegenheit Ihnen die fertigen Bogen meines Werks zu zuschiken, habe sie aber noch nicht gefunden. Wenn ich nur von ihrer Nachsicht versichert bin, so werde ich Ihnen alles mit Vergnügen vorlegen. Denn ich bin weit mehr wegen des Urtheils meiner Freünde, als über das besorgt, was die Journalisten sagen werden, die sich größten Theils schon selbst um ihr Ansehen gebracht haben, die ich auch eben nicht für juges competens meiner Arbeit erkenne. Aber an Ihrem Beyfall ist mir gar zu viel gelegen. Nun wollte ich zwahr ihn nicht erbetteln, nur dieses ist mir höchst nöthig, daß ich, ehe die Arbeit ganz fertig ist, nichts abschrekendes erfahre; denn fertig möchte ich doch das Werk machen. Hernach werde ich alle Urtheile gern anhören; Weil ich ziemlich gewiß bin, daß das, was Kenner an dem Werk aussezen werden, auch mir, als unvollkommen bekannt ist. Über die Hauptsache bin ich ganz ruhig. Ich habe die wahren Grundsäze der Critik gewiß gefunden, und ich weiß, wo jeder Zweig der Kunst seine besten Früchte trägt. Aber in manchem besondern Artikel habe ich bisweilen nicht Zeit, bisweilen nicht Lust genug gehabt, jedes einzele lange genug zu überlegen, und an diesen Stellen habe ich oft die einfachesten und hellesten Begriffe nicht erreicht und den leichten und Kernhaften Ausdruk nicht gefunden. Darin liegt der Hauptmangel.

Wenn ihre Noachide im Pult fertig liegt, so wünsche ich doch eine Copey davon zu haben. Denn wenn ich einmal mit meinem Werk zu Ende bin möchte ich wol die Ehre haben, der Herausgeber derselben zu seyn, und ich schmeichle mir doch, daß mein Werk dem ihrigen eine gute Aufnahme zubereiten wird. Es wird mancher daraus einsehen lernen, was für schlechte Kunstrichter die Leüthe sind, die die Noachide offentlich verachtet haben. Mancher wird überhaupt so wol von den Dichtern, als von den Gedichten ganz andre Begriffe bekommen, als die sind, die man aus den Journalen bildet.

Gegenwärtig sind Gleim und Jacobi hier. Der erste ist durch die Ehre, die ihm Kloz und Wieland angethan haben, merklich verdorben worden. Jacobi ist ein gutes Kind und könnte sich leicht in einem beßern Lichte zeigen, als er sich bis dahin gezeiget hat. Wär' er Ihnen in die Hände gefallen, so wie Klozen oder Gleim, so wär er izt schon ganz der unsrige.

Ich höre daß unter der Hand an der Wiedereinsezung des guten Pr. Müllers gearbeitet wird. Ich wollte diesem ganz braven Mann, die Freüde wol gönnen, wieder ein Bürger von Zürich zu seyn. Helffen Sie auch mir zu gefallen, die Sache zur Richtigkeit zu bringen. Ich schreibe auch dem Doctor davon. Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Ihren Neveu sehe ich zu wenig. Er hat einen gar zu trägen Gefehrten.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Vater Bodmer.

Vermerke und Zusätze

Siegel.

Lesarten

einzele
einzeln

Stellenkommentar

Hirzel wegen der Pest beruhige
1770 hatte es einen erneuten Ausbruch der Pest in Osteuropa, insbesondere in Russland, gegeben. Sulzer verfasste am selben Tag ein Schreiben an Hans Caspar Hirzel: »Mein lieber Freünd. Mein langes Stillschweigen auf ihren lezten Brief, ist doch schon eine Art der Antwort, auf das, woran ihnen am meisten gelegen ist, Antwort zu haben. Wären die Umstände der Pest gefährlich und dieses Übel annähernd, so würde ich nicht gesäumt haben, Ihnen so gleich zu antworten. Einige ziemliche Zeit lang, nach dem ihr Brief angekommen war, hörte man hier gar nichts Zuverläßiges von dem Zustand der Seüche und ich wollte doch gern warten, bis das Collegium Sanitatis etwas Neües von den hiezu, so wol an den Gränzen, als in Pohlen selbst bestellten Personen würde erfahren haben. [...] Die zuverläßigsten Nachrichten, die seit kurzem hier eingegangen melden wenigstens von der Annäherung der Seüche gegen die deütschen Gränzen nichts«. (ZB, FA Hirzel 237).
juges competens
Übers.: »kompetente Richter«.
daß mein Werk dem ihrigen
Vgl. Sulzers Erwähnung Bodmers und die Besprechung seiner Werke, insbesondere des Noah, in zahlreichen Artikeln des ersten Teiles der AT, u. a. in den Lemmata »Allegorie«, »Ausbildung«, »Beschreibung«, »Bild«, »Charakter«, »Dichtung«, »Dichtungskraft«, »Einbildungskraft«, »Empfindung«, »Heldengedicht« und »Historie«.
schreibe auch dem Doctor
Vgl. Sulzer an Hirzel, Berlin, 8. Dezember 1770: »Man sagt mir, daß sich einige Hintermänner bey Ihnen bemühen die Revocation der gegen den ehrlichen Müller ergangenen Sentenz nach und nach vorzubereiten. Der rechtschaffene Mann verdienet diese Achtung sehr wol. Denn ob man ihn gleich mit großer Härte ausgestoßen hat, ist er doch von ganzem Herzen ein Patriot und izt mit mehr wahrer Kenntnis der Sachen, und weniger Vorurtheilen, als ehedem. Er ist zwahr hier wol versorget, doch liegt die Kränkung noch auf seinem Herzen. Können Sie, mein Freünd, etwas dazu thun, daß ihm die Rechte eines Bürgers wieder gegeben werden, so thun Sie es auch mir zu gestatten und seyen Sie durch mich, den hierin kein Intereße blendet, versichert, daß Sie wenig Bürger haben, die diesen an redlichen Gesinnungen und an Liebe des allgemeinen besten, übertreffen. Aber er ist doch, wie alle Menschen, die doch fühlen, daß Sie etwas werth sind, zu stolz, als daß er seine Wiedereinsezung, durch demüthigende Schritte suchen sollte, und verdienet gewiß, daß man ihn derselben überhole.« (ZB, FA Hirzel 237).
trägen Gefehrten
Begleiter von Johann Conrad von Orelli, Bodmers Großneffe, nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann