Brief vom 14. Dezember 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 14. Dezember 1762

W. den 14 Dec.

Mein theüergeschäzter Freünd.

Ich habe die Klageschrift über den ungerechten Landvogt gelesen. Was ich von dem Werth dieser Schrift halte, därff ich Ihnen nicht erst sagen. Ich freüe mich, daß es in ihrer Statt noch Männer giebt, denen die Rechte der Menschlichkeit so werth sind, daß sie dieselben mit dem äußersten Eyfer und mit ihrer eigenen Gefahr verfechten. Ich entdeke in dieser Schrift Empfindungen und die Sprache eines uns wolbekannten Mannes und wünsche, daß ich mich hierin nicht irren möge. Sie ist ein großes Denkmal seines edlen Herzens und ich hoffe, daß sie zugleich ein herrliches Siegesmal über die Tyranney werden soll. Ich würde ihm rathen nun bald öffentlich aufzutreten, um das Laster in seiner eigenen Person anzugreiffen. Der Sieg kann ihm kaum fehlen. So bald er sich entdekt, bitte ich Sie es mir wißen zulaßen, weil ich einem so großen Streit in der Nähe zusehen möchte. Es soll mir wichtiger seyn, als wenn ich den Cäsar und Pompejus um die Herrschaft der Welt streiten sähe.

Aber was soll ich Ihnen von der gedrukten Rathserkantnus sagen? Sie ist neben der Anklage ein bloßes Schattenbild ohne Cörper. Wenn man sie gleich nach der ersten ließt, so verfällt man aus einer Scene voll Leben, voll großer Vorstellungen in eine Welt, wo lauter schwache nichts sagende, kaum die Sinnen rührende Phantomen sind. Man sieht deütlich, wie gerne man die Anklage für eine blos boßhafte Pasquill wollte angesehen wißen, wenn es irgend angienge. Ich möchte wol von diesen Richtern einen Urtheilspruch über eine auf eben diese Weise ausgestreüte Schrift hören, darin man Ihnen Nachricht von einer Verschwöhrung gegen den Staat, mit Anzeigung des Haupts derselben, und der Mittel die ganze Sache zu entdeken, gäbe. Glauben Sie wol, daß man auch sagen würde, [→]man hätte zwahr Mißfällig vernomen, daß gewiße, für die Ruhe des Staats zwahr wichtige Nachrichten, auf eine illegale Weise wären angezeiget worden; und wollte jederman hiemit erinnert haben, zu berichten, was man von der Sache wüßte. Im übrigen u. s. f.

Wir sind in Großer Erwartung über den Ausgang dieser Sache, und stehen dem redlichen Patrioten mit unsern besten Wünschen bey. Wir sagen ihm, was jener Priester Jupiters dem Oedipus gesagt.

[→]Θεοῖσι μεν νυν οὐκ ισούμενον
Ἀνδρῶν δε πρῶτον.
– Ταῦθ’ ὑφ’ ἡμῶν οὐδὲν εξειδώς πλέον
Οὐδ’ ἐνδιδαχθείς, ἀλλὰ προσθήκῃ θεοῦ
Λέγῃ νομίζῃ δ’ ἥμῖν ὀρθῶσαι βίον.

Wir haben hier auch eine neüe Gelegenheit zu einigem Mißvergnügen, da wir sehen, daß unsre Hrn. und Väter uns mehr wie kleine unmündige, als wie erwachßene Kinder betrachten. Man will uns nicht ein mal die Freyheit laßen, unsre freywillige Geschenke nach unserm Gutdünken auszutheilen. Man verlangte mit höflichem Bitten von uns, für die durch Überschwemmung beschädigte eine Steüer von der Bürgerschaft zu sammeln. Wir antworteten, daß die meisten dieser Leüthe sich bereits bey uns gemeldet und Versprechungen der Hülffe bekomen haben. Man hätte den Vorsaz sich anzugreiffen und ihnen das gesammelte zuzuschicken, doch bäte man sich auch einige Nachricht von dem erlittenen Schaden, der UgH. imediate Angehörigen aus, die sich nicht gemeldet, um auch diesen zu helffen. Die Antwort war, man sollte nur sammeln und das gesammelte nicht selbst austheilen, sondern nach Zürich schiken. Was sind wir denn, wenn wir über unsre Allmosen an Fremde nicht mehr disponiren können? Kinder, die über ihr Taschengeld nicht mehr Meister sind. Wenn man meinem Rath folget, so geht man in dieser Sache via facti ohne weiteres Anfragen, und läßt es darauf ankommen, was man denn dazu sagt. Denn wenn wir alle Befehle, wie sie auch immer seyn mögen ausrichten sollen, so sind wir von Sclaven nicht mehr unterschieden.

Dieser Tagen habe ich den 14 theil der Berlinischen Briefe durch gelesen. Man scheinet darin Wielanden den Frieden anzubiethen. Der neüe Mitarbeiter, Prof. Abt, ein Schwabe, scheinet noch weit mehr eigendünkel zu haben, als die andren. Er spricht alles ex tripode Logices und wenn seine aussprüche gethan sind, so hebt er sich in die Höhe und kräht, wie der Hahn, wenn er das Huhn getreten hat. Er hat bey einer ganz zufälligen Gelegenheit ein Gallimathias von neüen Gründen gegen die vollkommenen Charaktere zum ästhetischen Gebrauch angebracht. [→]Nicolai nimt gegen einen Man, der zwahr noch unreiff zum Schreiben, aber ein sehr weit größeres Genie ist, als er selbst, die züchtigende Mine eines stolzen aber unwißenden Schülers an. Dieser Mensch heißt Halle und schreibt über die mechanische Künste. Seine Arbeit ist unreiff, sie verräth aber ein Genie.

Beleben Sie meine Einsamkeit doch bald mit einem langen Brief. Wegen eines in dem Leibe herumschleichenden Anfalls vom Podagra geht meine ästhetische Arbeit seit einigen Tagen etwas langsamer; doch rükt sie alle Tage um etwas fort. Jezo bin ich im Artikel Gedicht.

Ich umarme Sie von Herzen, stolz mich den Ihrigen zu nennen.

S.

P. S. Eben izt, da ich siegeln will, erhalte ich ihren Brief vom 13. Laßen Sie den Gedanken nicht zu stark aufkommen, daß Leüte von einem Schrot im Denken, sich nicht viel schreiben müßen. Ich kann mich nicht rühmen in dem Grad, wie Sie zu denken, wenn gleich meine art zu denken in der art der ihrigen ist. Es ist mir zu viel daran gelegen mich an Ihnen zu halten, wenn Sie in die Höhe fliegen. Ich wollte, daß Sie der Verfaßer der Klagschrift wären, und daß einer ihrer jüngern Freünde diese Gebuhrt adoptirte z. E. der Dr. H. Wenn diese Crisis zur Gesundheit ausschlägt, wie ich hoffe, so wird hernach viel gutes erfolgen. Geßner ist nach dem, was Sie mir von ihm sagen, und auch wenn das Urtheil über die Idyllen sein ist, nicht mehr und nicht weniger in meiner Vorstellung worden. Ich glaube ihn noch von Berlin aus zu kennen. Das Gute rührt ihn nur um des Schönen wegen, das darin ist, und wenn es nicht niedlich wäre, so würde er das Gute für nichts halten. So denken noch die besten aus der deütschen Schule.

Die Magdeb. Literatoren sind Schüler von Ramler und können sich nichts Größeres, als Ramlern vorstellen. Sie würden von andern Händen gebildet gut geworden seyn.

Wenn ich ein mal werde den Vorsaz gefaßt haben zu ihnen zu kommen, so komt die Kälte nicht in Betrachtung. Ich will die heiligen Beschäftigungen vorbey gehen laßen. Ich gehe aus ähnlichen Ursachen in den Wald als die Dichter. Inter Sylvas verum quæro, und es ist nicht ohne Nuzen.

Ich habe vergeßen Ihnen auf den Art. von dem Hrn. v. Arnim zu antworten. Er ist eben der, wofür man ihn hält. Der Sohn eines reichen Mannes der 18 Jahr lang ganz contract gewesen ist.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Eigenhändige Korrekturen

Was ich von dem
Von demWas⌉ ich von dem
deütlich, wie gerne
deütlich, daß wie gerne
man auch sagen
man auch anfan sagen
haben, als die andren
haben, als ⌈die⌉ andre|n|
die besten aus der
die besten unter aus der

Stellenkommentar

eines uns wolbekannten Mannes
Dass Sulzer zunächst Bodmer oder Hans Caspar Hirzel als Verfasser der Schrift Der ungerechte Landvogd annahm, bekannte er im Postskriptum, nachdem Bodmer offenbar in einem nicht überlieferten Brief erklärte, die Identität des Verfassers nicht zu kennen.
der gedrukten Rathserkantnus
Von der Kanzlei der Stadt Zürich ging am Samstag, den 4. Dezember 1762, die erste offizielle Stellungnahme aus, ein einseitiges, titelloses Blatt, in welchem der anonyme Verfasser der Schrift Der ungerechte Landvogd aufgefordert wird, seinen Namen bekannt zu geben und die Verantwortung für seine folgenschwere Klage zu übernehmen.
man hätte zwahr Mißfällig
In den folgenden Sätzen parodiert Sulzer die erwähnte Ratserklärung, die u. a. lautete: »Es ist MnGGHHerren zwaren sehr mißbeliebig zu vernehmen gewesen, daß vergangenen Montag Abends eine gedruckte Schrift [...], in welcher sehr bedenkliche und starke Klägden enthalten, auf eine illegale und ohnordentliche Weise [...] ausgestreuet worden.« (Kanzlei der Stadt Zürich, Aufforderung an den anonymen Verfasser der Schrift »Der ohngerechte Landvogt« seinen Namen bekannt zu geben, 1762)
Θεοῖσι μεν νυν οὐκ ισούμενον
Gekürztes Zitat aus der ersten Rede des Priesters in Sophokles' König Ödipus, Vers 31–33. Übers.: »Nicht weil wir dich als den Göttern gleichgestellt ansehen, [sondern] für den Ersten unter den Menschen halten [...] und das, obwohl du von uns nichts Näheres wusstest und auch nicht unterrichtet wurdest, sondern durch den Beistand eines Gottes, sagt und glaubt man, hast du uns das Leben aufgerichtet.« (Sophokles, König Ödipus, 2012, S. 66, 68).
die durch Überschwemmung beschädigte
Durch die Schneeschmelze sowie starke Regenfälle und Hagelschläge kam es im Sommer 1762 in der Umgebung von Zürich und Winterthur zu erheblichen Überschwemmungen. Vgl. dazu Vogel Denkwürdigkeiten der Stadt und Landschaft Zürich 1841, S. 466.
via facti
Übers.: »den Weg der Tatsache«.
der Berlinischen Briefe
Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 14, 1762.
Prof. Abt
Zur Mitarbeit Thomas Abbts vgl. Thiele Abbts Anteil an den Briefen die neueste Literatur betreffend 1880.
ex tripode Logices
Übers.: »aus dem Orakel der Logik«.
ein Gallimathias von neüen Gründen
Von Herrn Lindners Beitrag zu Schulhandlungen. Die Gattung taugt nichts. – Einige Anmerkungen über die Unbrauchbarkeit der Moralischvollkommenen Charaktere auf dem Theater als 231. Literaturbrief. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 14, 1762, S. 250–258.
Nicolai nimt gegen
Gemeint ist Nicolais Kritik am mehrteiligen Werk von Johann Samuel Halle, Werkstäte der heutigen Künste, oder die neue Kunsthistorie, 1761–1779. Nicolais Besprechungen erschienen im 237. bis 240. Literaturbrief. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 14, 1762, S. 325–370.
Artikel Gedicht
Vgl. Sulzer, AT, 1771, Bd. 1, S. 433–438.
ihren Brief vom 13.
Bodmers Schreiben vom 13. Dezember 1762 ist nicht überliefert.
Klagschrift
[J. C. Lavater], Der ungerechte Landvogd, 1762.
Die Magdeb. Literatoren
Vgl. Gleim an Ramler, 30. Mai 1762: »Die AmazonenLieder haben sie nun ohne Zweifel gelesen. Ganz Magdeburg erschallete davon! Herr Weiß soll der Verfaßer seyn; sie haben sehr viel schönes, mein Ramler aber wird schon zu tadeln finden, und ich wollte wohl, daß er mir den Tadel sagte, ich würde dann sehen, ob ich gegen die, die nichts auszusetzen fanden, recht gehabt hätte.« (GSA 75/74,5, Bl. 49–50.).
Inter Sylvas verum quæro
Hor. epist. II, 2, 45: »inter silvas Academi quaerere verum«. Übers.: »in Akademos' Baumgängen zu forschen nach der Wahrheit« (Horaz, Satiren und Briefe, 2014, S. 219).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann