Brief vom 16. Februar 1752, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 16. Februar 1752

den 16 Febr. 1752

Mein Wehrtester Freund.

Die Empfindungen, die sich bey ihnen über der geburt eines artigen Mädchens eingefunden, das sie bald vater stammeln wird, habe ich vor 20 jahren schon gekostet, meine vermählte gebahr dreymal Mädchen, die jezo wenn sie lebten, vielleicht Zürcherische ⟨boasts seyn würden. Mein Joseph und Zulika sind gantz bereit die schmertzen, welche das artige Mädchen der artigen mutter verursacht hat, zu versüssen. Ich hoffe doch daß sie bey ihrem werke, alles zusammen genommen, wie ich bey meinem, mehr süsses als bitters werde empfunden haben. Wenn ich recht rechne, so ist das liebe Kind zu einer zeit mit meiner Rachel an das licht gekommen. Sie wird in acht jahren eine liebe gespielinn für dasselbe seyn.

Der Noah wird nur noch 4 Wochen unter der presse seufzen, der neunte Gesang ist schier gedrukt. Ich schmeichle mir oft, daß Sie, mein liebster freund, werden bekennen dürfen, daß sie des Verfassers freund sind. Die Rachel hat schon den Jacob übertroffen, und Joseph soll die Rachel übertreffen. [→]Ein junger Grynäus hat Miltons paradis regaind und Samson Agonistes übersetzet.

Die Tscharnern haben auf ihren Reisen dem jüngern Racine ihre übersezung etlicher gesänge der Messiade gezeiget; er hat das werk mit dem grösten Ernst eine extravagante, abentheuerliche Geburt gescholten. Man hat hierher aus Leipzig geschrieben, daß Klopstoks Ode an Gott, die in Rostok gedrukt worden, von gewissen leipzigern, die Klopstok selber ehret und hochschätzet für nonsense gehalten werde. Non ego credulus illi.

Mein Wieland hat sein Incognito schon aufgegeben. Er ist kühn, wie ein jüngling, die verfolgungen der Canzel und der schule auf sich zu ziehen. Ich denke doch, wenn er seine Natur der dinge nur für eine hypothese giebt, die er nach dem recht der poesie ausgeschmükt hat, so werde er am besten davon kommen. Es scheint als wenn dieser jüngling von 19 jahren in einer form mit Klopstok wäre gegossen worden. Ausgenommen daß er mehr Fleiß und mehr Logik hat. Alles was Klopstok ist, oder von ihm kömmt, ist ihm vortrefflich. Er hat einen schutzbrief für Lazarus und Cidli gemacht, worinn er bald böse darauf wird, daß der Kuß einer von den grobsten Ausdrüken der Liebe seyn solle. Er hat selbst für das sinnliche in der liebe eine seltene Hochachtung. Er hat auch das weinen, welches in der Messiade dem höchsten Gott zugeschrieben wird, für ein ungemeines Kunststük der Klopstokischen Poesie erkläret. Ich dürfte ihm nur winken, so hätt ich ihn in Zürich, aber ich fürchte mich vor den jünglingen. Er hat schon seine Dulcinee; und er hält es für die schönste tugend sie zu lieben. Klopstoken kennt er allein aus seinen Gedichten, und er kann sich betrüben, daß dieser nicht einmal noch weiß daß Wieland ist. Der Brief wider die Tibullische Elegie im Crito Blatt 24 hat ihn ihm Ernst böse gemacht. Er glaubt Klopstok habe die Elegie geschrieben, und ich glaube es auch; wiewol ich es Wielanden nicht bekenne. Ich wollte doch gern einen Versuch thun, ob ich ihn dem Liebesfanaticismo entreißen könnte; es ist schwer, aber ich will das werk mit vorbedacht angreifen. Ich habe oft gedacht, es wäre der feder Hn. Saken nicht unwürdig, daß er sich über die Lehrsätze der anacreontischen lieder und der Tibullischen Elegien in den Brämischen Beiträgen und der vermischten sammlung erklärete. Man kann doch die Eberte, die Schmidte, und andere christliche verfasser kaum mehr von den Anacreonten und tibullen und Epicuren unterscheiden. Lesen sie die schöpfung der mädchen, den alten jüngling, die Apotheosis Anacreons und noch zwanzig dergleichen, lesen sie oben erwähnte Elegie. Ich weiß bald keine bessere schutzschrift für dise dinge, als daß die christlichen verfasser in der person jener Heiden geschrieben haben, wie Fenelon seinen Telemach, oder Klopstok die reden Satans. Man müste aber dise unvorsichtigen unmoralischen dinger vielmehr von der schwachen seite des Witzes betrachten, der darinnen gewiß sehr ungestaltet ist; und poesie ist noch weniger da. Hr. Sak sollte dises thun, damit es desto mehr Ansehen hätte. Und damit die jünglinge ihn nicht mit anacreontischen liedern widerlegeten, müste man ihre waffen brauchen und ihre eigenen lieder wie sie kehren, welches sehr oft anginge. Man müste auch über sie lachen, als böse werden. Vielleicht wäre das eine angenehme Arbeit für sie selbst, mein Freund!

Ich habe schwer an Wielands jünglingsherze zu arbeiten, ich darf ihm von Klopstoks Exempeln nichts sagen, er würde alles für Verleumdungen halten; und ich wollte sonst, daß das allen menschen verborgen bliebe. Inzwischen biß ich weiß ob die freundschaft, und tugend bey ihm mehr als Imagination sey, will ich in aller stille mein herz verwahren, daß es sich ihm nicht so gebe, wie es sich Kl. gegeben hatte. Ich hatte ihn gefraget, was er von dem seltsamen psychologischen geheimniß dächte, das grosse geister bey ihrem hohen Adel der Gedanken oft einen so starken hang nach den irdischen kleinen lüsten verrathen. Er hat mir kurz geantwortet, das sey leicht errathen, der Mensch sey ein Wurm und ein Gott.

Ich hatte an einem Orte einfliessen lassen, Klopstok hätte seine Fanny ehmals über alles irdische geliebet. Dieses wort setzte ihm den Floh ins Ohr und er thut hundert fragen, ob denn Klopstok die Fanny nicht mehr liebe; das könne nicht möglich seyn. –

Bey diser gelegenheit muß ich ihnen sagen daß die Tscharnern auch in Engelland und in dem städtgen gewesen, wo Young prediger ist. Er soll von seinen pfarrkindern angebetet seyn, und der redlichste Greiß sein. Er hat ihnen für Pops poesie alle hochachtung zu haben versichert, aber sich nicht gescheut ihnen zu sagen, daß Pope ein mensch ohne Religion gewesen sey.

Ich will ihnen ein stük von Wielands Hermann durch die Meßleute oder Hn. Kleinmann schiken.

Belieben sie den brief an Hn Heß durch die antique petschaft zu signiren, und ihm zu geben.

Der kleine Schuldheiß wird in wenig tagen pastor zu Stettfort seyn; einer neuen Kirche, die zuvor zu Aadorf, ligt eine stunde über Elg, gehört hat. Er hat Gulden 300 Einkünfte.

Mein portrait en ombre ist vor wenig tagen angelanget. Haid hat es selbst gearbeitet, es ist fein und reich an Zierrath, aber die ähnlichkeit ist entfernt. Sie sollen es mit dem Noah erhalten.

Rahn schreibt aus Copenhagen, der König habe die neue societät unterschrieben. Wir werden bald eine göttliche [→]Ode von Kl. auf die verstorbene Königinn bekommen, die gedrukt werde. Habe ich ihnen gesagt daß ich den Jacob und Joseph überarbeitet habe? Orell hat nur auf die JubilateMesse noch Exemplare; dann will ich eine neue auflage besorgen. Wenn sie etwas in diesem Gedichte desiderieren, so bitte mir ihre Erinnerungen. Hr. Canon. Geßner gehet wieder allgemach im Zimmer herum. Dr. Hirzel wollte ihm gern succedirt haben.

Erst jezo agiert der Tribunal der Hhn Censorum libr. wider Hn past. Füßlin in causā Breitingeri propriā. Hr. Füßlins Gönner hätten gerne daß geschäft wollen ersitzen lassen. Ich verbleibe ohne Ecstase aber desto würksamer

Ihr ergebenster Diener
Bodmer

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief an Caspar Heß.

Eigenhändige Korrekturen

Incognito schon aufgegeben
Incognito baldschon⌉ aufgegeben
geliebet. Dieses wort setzte
geliebet. Diese|s| worte |wort| setzte

Stellenkommentar

Zürcherische ⟨boasts
Die Lesart ist unsicher. Das englische Wort »Boast« steht für Stolz oder Prahlerei und wird in der Zeit u. a. im Spectator oder auch in Alexander Popes Odyssey of Homer verwendet. Bodmers Töchter würden demnach als Stolz Zürichs dargestellt. Eine alternative Lesart ist »Evasts«. Dahinter könnte eine Anspielung auf die mittelalterliche Erzählung Libre d'Evast et Blanquerna von Raimundus Lullus stehen. Allerdings ist Evast hier der Name einer männlichen Figur. Das weibliche Pendant heißt Aloma.
Grynäus hat Miltons [...] übersetzet
Der vollständige Titel der Übersetzung des 27-jährigen Simon Grynäus lautet Johann Miltons wieder-erobertes Paradies, nebst desselben Samson, und einigen andern Gedichten, wie auch einer Lebens-Beschreibung des Verfassers. Sie erschien 1752 in Basel bei Johann Rudolf Im Hof.
Tscharnern haben auf ihren Reisen
Die Brüder Vincenz Bernhard und Niklaus Emanuel von Tscharner waren Ende September 1750 auf eine Reise durch Europa aufgebrochen, auf der sie u. a. in Frankreich Louis Racine (den Sohn Jean Racines) und in England Edward Young trafen. Zur Reise der Tscharners vgl. Stoye Vincent Bernard de Tscharner 1954, S. 65–76.
Non ego credulus illi
Verg. bucol. ecl. IX, 34. Übers.: »nicht leichthin möchte ich ihnen das glauben«. (Vergil, Hirtengedichte, Ekloge 9, 2016, S. 103).
Dulcinee
Freundin Don Quijotes. Hier ist Sophie von La Roche gemeint, mit der Wieland seit 1750 verlobt war. Die Verlobung wurde allerdings wieder gelöst.
Brief wider die Tibullische Elegie im Crito
Bodmers Kritik von Klopstocks Elegie, die dieser zur Hochzeit des Bruders seines Freundes Johann Christoph Schmidt verfasste und in der sich die Verse finden: »Ein beseelender Kuß ist mehr als hundert Gesänge/ Mit ihrer ganzen langen Unsterblichkeit werth« erschien im Crito, St. 1, 1. Juli 1751, S. 24–26. Bodmer warf Klopstock Wollüstigkeit und »tibullische Liebe« (S. 24) vor, der er als »Gegengift« die Elegie Die Frucht der Lüste entgegenstellte.
Schmidte
Vermutlich der Lüneburger Theologe und Schriftsteller Konrad Arnold Schmidt, der dem Kreis um Gärtner angehörte und 1761 Lieder auf die Geburt des Erlösers publizierte.
hatte ihn gefraget
Nicht überliefert. Vgl. Wielands Antwortbrief vom 4. Februar 1752 (Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 37–42).
städtgen
Edward Young war Pfarrer in Welwyn in Hertfordshire.
Pops
Alexander Pope.
Hn. Kleinmann
Nicht ermittelt, vermutlich ein Kaufmann.
antique petschaft
Stempel mit Antiken.
pastor zu Stettfort
Johann Georg Schulthess, der sich 1752 auch verheiratete, war bis 1769 Pfarrer in Stettfurt und anschließend in Mönchaltorf. Das bei Frauenfeld im heutigen Kanton Thurgau gelegene Stettfurt war 1752 zur Kirchengemeinde erhoben worden.
Rahn schreibt aus Copenhagen
Nicht ermittelt.
Ode [...] auf die verstorbene Königin
F. G. Klopstock, Die Königin Luise, 1752. Vgl. Klopstock Oden 2015, S. 117–119.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann